Bis du stirbst: Thriller (German Edition)
alten Nachbarn gesprochen. Niemand hat sie gesehen. Sie war seit drei Tagen nicht in der Arbeit. Hat sich nicht krank gemeldet. Hat nicht gekündigt.
Als Nächstes ruft Sami alle Krankenhäuser in der näheren Umgebung an und geht zur Polizeistation von Brixton, um sie als vermisst zu melden.
Der diensthabende Polizist hat ein blutverkrustetes Stückchen Papier am Hals kleben. Er ist nur noch einen Doughnut davon entfernt, fett zu sein.
»Seit wann wird sie vermisst?«, fragt er.
»Seit dem Wochenende.«
»Haben Sie sich gestritten?«
»Nein.«
»Wer war der Letzte, der sie gesehen hat?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wie war sie angezogen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Haben Sie begründete Befürchtungen, ihre Sicherheit betreffend?«
»Ich weiß nicht. Ja. Vielleicht.«
Der Polizist drückt sich die rechte Hand ins Kreuz und verzieht das Gesicht, als würde das seine Rückenschmerzen lindern.
»Sind Sie sicher, dass Sie überhaupt eine Schwester haben?«
Sami muss ein Formular ausfüllen. Kästchen ankreuzen. Der Bulle wird einen Teufel tun und nach Nadia suchen. Sami braucht einen anderen Plan.
Onkel Harry wird wissen, wo sie ist. Er hatte versprochen, auf Nadia aufzupassen, als Sami in den Bau ging. Er ist nicht wirklich Samis Onkel: mehr ein Freund der Familie aus den Tagen, als Samis Vater noch am Leben war und aus einem Zimmer im zweiten Stock von Harrys Kneipe ein Wettbüro betrieb.
Vor noch längerer Zeit war Harry Berufsboxer gewesen, mit Spitznamen »Totschläger«, weil er bei einem seiner frühen Kämpfe mal einen Typen umgebracht hatte. Sami hat noch nie jemanden getroffen, der einen von Harrys frühen Kämpfen gesehen hat, aber in seiner Glanzzeit ist er im Crystal Palace gegen die Schwergewichtslegende Henry Cooper angetreten.
Der White Swan liegt versteckt hinter Waterloo Station, nicht weit entfernt vom Old Vic Theatre. Sami drückt die Tür zum Pub auf und späht in die Dunkelheit. Drinnen sind Kunden, die sich benehmen, als hätte jemand ihren Sargdeckel angehoben.
Dieselben Gesichter. Dieselben Gerüche.
»Warst du weg?«, fragt einer.
»So was in der Art«, sagt Sami.
»Die nächste Runde geht auf dich.«
»Ich gebe erst einen aus, wenn du dich an meinen Namen erinnerst.«
Der Besoffene sieht ihn genau an. Dann stiert er in sein leeres Glas.
»Rumpelstilzchen.«
»Fast.«
Harry Galanto kommt um die Ecke und brüllt durchs ganze Lokal. »Mein Junge! Mein Junge!«
Er schiebt sich durch einen Durchlass im Tresen und umarmt Sami ungestüm, eine Bärenumarmung, eine Bierumarmung, eine Mischung aus beidem.
Harry ist in eine höhere Gewichtsklasse aufgestiegen, seit er die Boxhandschuhe an den Nagel gehängt hat. Sein Bauch sieht aus wie eine zusätzliche Person, aber er lehnt es ab, Hosen größer als 52 zu tragen. Das hat den Effekt, dass alles nach oben gedrückt wird, bis seine Wampe wie ein teigiger Tsunami über seinen Gürtel quillt.
Harry staubt einen Hocker ab. Geht zurück hinter den Tresen. Gießt Sami ein Pint ein. Sein erster Alkohol seit zwei Jahren. Er trinkt es in einem Zug aus. Gut.
»Hast du Nadia gesehen?«, fragt er.
Harry verzieht das Gesicht. »Sie ist am Dienstag vorbeigekommen.«
Das ist nicht die ganze Geschichte.
»Sie sollte eine Schicht übernehmen«, sagt Harry. »Sie hat in letzter Zeit ein paar Nächte hinter der Bar gearbeitet.«
»Ja, das hat sie mir erzählt. Was war los?«
»Ich habe ihr gesagt, sie soll sich die Mühe sparen.«
»Warum?«
Harry sieht ihn traurig an. »Ich mochte ein paar der Kunden nicht, die sie anzog.«
»Wen denn zum Beispiel?«
»Toby Streak.«
Sami fühlt, wie es in seinem Gesicht zuckt. »Was hat Streak hier gemacht?«
»An Nadia herumgeschnüffelt, als wäre sie läufig.«
»Waren sie zusammen?«
Harry nickt und gießt sich noch ein Pint ein. Das Bier hat Samis Blutkreislauf erreicht. Er will mehr. Braucht es dringend. Plötzlich möchte er einer von diesen volltrunkenen Tölpeln in der Kneipe sein, ein einfaches Leben leben, mittags schon besoffen und dann ein Kebab, wenn die Kneipe zumacht. Stattdessen muss er sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Nadia mit Toby Streak liiert ist.
Sami kennt Streak nicht gut, aber er kennt seinen Ruf. Er ist ein Zuhälter und kleiner Kokaindealer, aber das macht er nur als Nebenerwerb. Sein Hauptgeschäft besteht darin, den Lover-Boy zu spielen: In Nachtclubs liest er blutjunge Mädchen auf und verführt sie mit allen Mitteln der Kunst zur
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