Bis einer stirbt
beschloss, meiner Mutter eine von allem Elend gereinigte Version von Pits Anruf aufzutischen, blieb mein Blick an einem Foto hängen. Es war die Rekonstruktion eines Gesichts.
»Der Tote aus dem Hafenbecken«, stand neben dem Bild. »Wer kennt diesen Mann? Er ist ungefähr achtzehn bis zwanzig Jahre alt. An der linken Hand hat er eine kleine Tätowierung in Form einer Schildkröte.«
Eine Schildkröte. Irgendwo hatte ich schon mal so eine Tätowierung gesehen. Aber wo? Die letzten Tage waren so voller neuer Eindrücke und Bilder gewesen, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich zu erinnern. Vielleicht hatte ja am Hafen unter der Plane eine Hand des Toten vorgelugt, die ich gesehen hatte? SchlieÃlich gab ich mich mit dieser Erklärung zufrieden, warf einen letzten Blick auf das Foto des Toten und ging weiter.
Meine Mutter wartete schon in der Cafeteria. Sie saà am gleichen Tisch wie sonntags. Schon von Weitem erschrak ich. Ihr Gesicht war kalkweiÃ, müde stützte sie die Ellenbogen auf die Tischplatte. Ganz in sich versunken rauchte sie eine Zigarette. Als ich näher kam, sah ich, dass ihre Augen stark gerötet waren. Sie sah aus, als hätte sie mehrere Nächte lang kein Auge zugemacht.
Nachdem ich ihr von Pits Anruf erzählt und ihr vorgegaukelt hatte, dass es ihm gut ging, fragte ich sie nach Vater.
»Unverändert.« Ihre Augen, in die neues Leben gekommen war, als ich von Pit erzählt hatte, verloren schlagartig ihren Glanz. »Er sagt, dass ihr für ihn gestorben seid. Alle beide. So geht man nicht mit seinen Eltern um, sagt er. Er trinkt viel. Aber vielleicht hat er trotzdem Recht. Geht man so mit seinen Eltern um?«
»Ich hab mich nicht selbst rausgeschmissen«, sagte ich. »Das war er.«
»Aber du kennst ihn. Du weiÃt, dass er es nicht so gemeint hat.«
»Du hast Recht.« Ich lieà mich nicht beirren. »Ich kenne ihn. Sehr gut sogar. Und genau deshalb ist mir klar, dass es so nicht weitergeht. Er ist sicher auch ein Grund, warum Pit nicht mehr nach Hause will.«
»Du kannst nicht immer die Schuld bei anderen suchen«, gab sie hart zurück und drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher. Wir hatten uns noch nicht mal was zu trinken geholt, geschweige denn etwas Essbares. Eigentlich hab ich nach der Schule immer einen Bärenhunger. Heute aber fühlte ich mich innerlich wie zugeklebt.
»Das tue ich gar nicht«, sagte ich und fing an, an meinem Daumennagel zu knabbern. Eine saublöde Angewohnheit, die ich eigentlich vor ungefähr einem halben Jahr aufgegeben hatte. »Ich wollte euch einen Vorschlag machen«, sagte ich so leise, dass ich mich selbst kaum hören konnte, »Papa und dir.«
Meine Mutter sah mich angestrengt an. »Ich habe auch einen Vorschlag«, konterte sie. »Geh hier raus, setz dich in den Bus, fahr nach Hause und vertrag dich wieder mit deinem Vater. Wenn du mit gutem Beispiel vorangehst, wird auch Pit den Weg zurückfinden.«
Sie steckte sich eine neue Zigarette an. Sonst rauchte sie nicht so viel.
Wenn das so einfach wäre, dachte ich, würde ich es machen. Sofort!
Ich hatte es so satt, dass Pit in einer ganz anderen Welt lebte als ich, auÃerdem wollte ich gern wieder in meinem eigenen Bett schlafen.
»Und jetzt mein Vorschlag«, sagte ich. »Wäre schön, wenn du ihn dir erst mal anhörst.«
»Nun?«
»Eigentlich ist es ein Vorschlag von Nilsâ Mutter.«
»Der Kommissarin«, stellte sie fest, »bei der du ⦠wohnst.« Das letzte Wort kam ihr nur schwer über die Lippen.
»In deren Wohnung ich ein paar Tage untergeschlüpft bin«, korrigierte ich. »Sie ist bereit, bei einem Gespräch mit Papa und dir dabei zu sein.«
Meine Mutter gab einen verächtlichen Laut von sich.
»Wennâs geht, auch mit Pit«, fügte ich leise hinzu.
Ihre Skepsis wuchs. Sie verstand nicht genau, was ich von ihr wollte.
»Sie wäre dann so eine Art Schiedsrichter«, erklärte ich. »Damit alle sich an die Regeln halten.«
»Welche Regeln?«
»Regel eins«, sagte ich energisch. »Kein Alkohol. Regel zwei: Keiner schreit den anderen an. Und Regel drei: Jeder lässt den anderen aussprechen.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst«, sagte sie skeptisch und zog an ihrer Zigarette, als übe sie für die Raucherolympiade, »dass er so was mitmacht. Er wird einen Tobsuchtsanfall
Weitere Kostenlose Bücher