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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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schlug plötzlich die Augen nieder.)
    Jack und seine Mutter standen in diesem Meer aus Mädchen, bis alle
Schulbusse und Autos vor- und wieder weggefahren waren und bis von denen, die
zu Fuß nach Hause gingen, nicht einmal das Geräusch ihrer Schritte oder ihres
einschüchternden, aber aufregenden Lachens geblieben war. Die frühherbstliche
Luft war noch warm genug, um ihren Duft zu übertragen, den Jack zaghaft
einatmete und für Parfüm hielt. Die meisten Mädchen in St. Hilda benutzten so
etwas nicht, sondern waren eingehüllt in ihren eigenen Duft, an den Jack Burns
sich nie gewöhnte, den er nie für etwas Selbstverständliches hielt. Nicht
einmal am Ende der vierten Klasse.
    »Aber warum soll ich hier zur Schule gehen?«
fragte Jack seine [14]  Mutter, als die Mädchen verschwunden waren. Ein paar welke
Blätter waren alles, was sich an dieser ruhigen Straßenecke noch bewegte.
    »Weil es eine gute Schule ist«, sagte Alice. »Und bei den Mädchen
bist du sicher«, fügte sie hinzu.
    Jack war offenbar anderer Ansicht, denn er griff sofort nach der
Hand seiner Mutter.
    In jenem Herbst vor Jacks Einschulung in St. Hilda war seine
Mutter voller Überraschungen. Nachdem sie ihm die uniformierten Mädchen gezeigt
hatte, die bald sein Leben beherrschen würden, verkündete sie, sie werde in
Nordeuropa nach Jacks verschwundenem Vater suchen. Sie kenne die Hafenstädte an
der Nordsee, in denen er sich höchstwahrscheinlich vor ihnen verstecke;
gemeinsam würden sie ihn aufspüren und mit seiner Pflicht und Schuldigkeit
konfrontieren. Jack hatte öfter gehört, daß seine Mutter sie beide als »Pflicht
und Schuldigkeit« seines Vaters bezeichnet hatte. Aber selbst im Alter von vier
Jahren war er überzeugt, daß sein Vater für immer fortgegangen war – und zwar
schon vor seiner Geburt.
    Und als seine Mutter sagte, sie werde unterwegs, in diesen fremden
Städten, Geld verdienen, wußte Jack auch, womit. Ihr Vater war Tätowierer, und
Alice war Tätowiererin; es war das einzige, was sie konnte.
    In den Städten an der Nordsee, die sie aufsuchen wollte, würden
andere Tätowierer ihr Arbeit geben. Man wußte, daß sie bei ihrem Vater in die
Lehre gegangen war, einem wohlbekannten Vertreter seiner Zunft in Edinburgh –
oder vielmehr im zu Edinburgh gehörenden Hafen Leith –, wo Jacks Mutter das
Pech gehabt hatte, seinen Vater kennenzulernen. Dort hatte er sie geschwängert
und umgehend sitzenlassen.
    Laut Alice war Jacks Vater auf der New Scotland nach Halifax gefahren. Sobald er eine bezahlte Arbeit gefunden hatte, würde [15]  er sie nachkommen lassen – das hatte er jedenfalls versprochen. Doch Alice
sagte, sie habe nie wieder etwas von ihm gehört – nur über ihn. Bevor er aus der Stadt verschwunden war, hatte Jacks Vater eine breite
Spur durch Halifax gezogen.
    Jacks Vater hieß eigentlich Callum Burns, doch er hatte während
des Studiums seinen Vornamen in William geändert. Sein Vater hieß Alasdair,
was, wie William sagte, so schottisch war, daß es für die ganze Familie
reichte. Zum Zeitpunkt seiner skandalösen Abreise nach Nova Scotia war William
Burns Mitglied des Royal College of Organists in Edinburgh, was bedeutete, daß
er nicht nur einen Abschluß in Musikwissenschaften besaß, sondern auch
diplomierter Organist war. Als er Jacks Mutter kennenlernte, war er Organist an
der Pfarrkirche von Süd-Leith; Alice sang dort im Chor.
    Für einen jungen Mann, der so tat, als gehöre er zur gehobenen
Gesellschaft, und der eine gute Ausbildung genossen hatte – William Burns war
vor dem Studium der Musikwissenschaften an der Universität von Edinburgh in
Heriot zur Schule gegangen –, hatte eine erste Anstellung als Organist in einer
Arbeiterstadt wie Leith möglicherweise das Flair eines Ausflugs in die
Unterschicht. Aber Jacks Vater pflegte scherzhaft zu sagen, die Church of
Scotland zahle einfach besser als die Scottish Episcopal Church. William
gehörte der letzteren an, und dennoch gefiel es ihm ganz gut in der Pfarrkirche
von Süd-Leith, auf deren Friedhof angeblich elftausend Menschen lagen, obgleich
dort nicht mehr als dreihundert Grabsteine standen.
    Den Armen waren Grabsteine verboten, aber nachts, erklärte Jacks
Mutter, kämen die Leute mit der Asche ihrer Lieben und streuten sie durch das
Gitter auf den Friedhof. Die Vorstellung, daß so viele Seelen in der Finsternis
umhergeweht wurden, bescherte dem Jungen Alpträume, doch die Kirche war – wenn
auch womöglich nur wegen des Friedhofs

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