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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Vaters gewesen waren, die seine Mutter zu St. Hilda geführt
hatten. Es erschien unglaublich, aber die Schule hatte William Burns als Leiter
des Chors der älteren Schülerinnen eingestellt, der aus Mädchen der 9. bis 13.
Klassen bestand. William erteilte auch Privatunterricht an Klavier und Orgel,
und zwar beinahe ausschließlich älteren Mädchen. Man kann nur spekulieren, was
Jack als Teenager von den Abenteuern seines Vaters an einer reinen
Mädchenschule hielt. (Williams bemerkenswerter Einsatz für die musische Bildung
der Mädchen bewirkte außerdem, daß man ihn als ersten Organisten bei den
täglichen Gottesdiensten spielen ließ.)
    Wie nicht anders zu erwarten, war Williams Erfolg in St. Hilda nur
von kurzer Dauer. Ein Mädchen aus der 11. Klasse – eine seiner
Klavierschülerinnen – erlag als erste seinem Charme, doch es war eine Schülerin
der 13. Klasse, die von ihm schwanger wurde. Er fuhr sie später nach Buffalo,
wo sie eine illegale Abtreibung vornehmen ließ. Als Alice mit ihrem unehelichen
Kind in Toronto eintraf, war William bereits geflohen, und wieder einmal wurden
Jack und seine Mutter von Kirchgängern willkommen geheißen.
    St. Hilda war eine anglikanische Schule; die Schulkapelle, in der
viele der Absolventinnen sich später trauen ließen, war eine der Bastionen der
anglikanischen Kirche von Kanada in Toronto. Die wenigen Stipendien für diese
Schule, die es in den sechziger Jahren gab, wurden von der Old Girl’s
Association, einer einflußreichen Vereinigung ehemaliger Schülerinnen,
finanziert. [26]  Die Töchter anglikanischer Geistlicher hatten gewöhnlich
Vorrang, doch die Entscheidung, wer sonst noch auf Unterstützung rechnen
konnte, blieb der Gemeinde überlassen. Nicht nur die Anglikaner, die
Schulleitung und die Lehrer, sondern auch die Old Girls erfuhren rasch von
Alice und ihrem Zustand. (Der Zustand war natürlich Jack.) Darum nahm Jack, als
seine Mutter ihm sagte, er werde einer der wenigen Jungen sein, die neuerdings
in St. Hilda aufgenommen würden, natürlich an, daß Alice auf die Hilfe der
Ehemaligen zählen konnte.
    Tatsächlich hatten Alice und Jack bereits Glück gehabt, denn sie
waren im Haus einer Ehemaligen untergekommen. Mrs. Wicksteed war ein Eckpfeiler
der Vereinigung. Nach dem Tod ihres Mannes brach sie unerklärlicherweise auch
Lanzen für ledige Mütter. Sie setzte sich nicht nur vehement für sie ein,
sondern nahm sie auch unter ihrem Dach auf.
    Mrs. Wicksteed war eine Witwe, deren Trauerzeit längst vorüber war;
sie lebte praktisch allein in einem stattlichen, aber nicht allzu imposanten
Haus Ecke Spadina Road und Lowther Avenue, wo Jack und seine Mutter Zimmer
bekamen. Die Räume waren nicht groß, und es waren auch nur zwei (mit einem
gemeinsamen Bad), aber sie waren hübsch und sauber und hatten hohe Decken.
    Die Haushälterin hieß Lottie, stammte von Prince Edward Island und
hinkte.
    Lottie wurde Jacks Kindermädchen, während Alice Arbeit in der
Branche suchte, in der sie sich auskannte.
    In den sechziger Jahren war Toronto alles andere als das
Tätowierungs-Mekka Nordamerikas. Alice’ Lehrjahre im Studio ihres Vaters und
ihre berufliche Weiterbildung bei Charlie Snow und Matrosen-Jerry in Halifax
hatten sie für die Studios in Toronto überqualifiziert. Sie war wesentlich
besser als Beachcomber Bill, der ihr (aus Gründen, die Jack nicht kannte)
keinen Job anbot, und sie war auch besser als der Mann, den man den [27]  Chinesen
nannte und der dies sehr wohl tat. Sein wirklicher Name war Paul Harper, und er
sah keineswegs chinesisch aus, aber er wußte, daß Alice 1965 die beste
Tätowiererin in Toronto war, und stellte sie sofort ein.
    Das Studio des Chinesen lag an der nordwestlichen Ecke von Dundas und
Jarvis Street. Unweit des alten Warwick Hotels stand ein viktorianisches Haus
mit einer Treppe, die zu einem Souterraineingang führte. Dort befand sich das
Studio, das man direkt vom Bürgersteig der Dundas Street betrat; die Vorhänge
der Fenster waren stets zugezogen.
    Als Kind dachte Jack gelegentlich daran, Paul Harper in seine Gebete
einzuschließen. Der sogenannte Chinese half Alice, beruflich Fuß zu fassen in
der Stadt, die schließlich ihre – wenn auch nie Jacks – Heimatstadt werden
sollte.
    Doch es ist nicht gut, jemandem verpflichtet zu sein;
Verpflichtungen haben oft einen Preis. Während der Chinese Alice niemals das
Gefühl gab, sie sei ihm etwas schuldig, lag der Fall bei Mrs. Wicksteed
vollkommen anders. Daß sie es gut

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