Bis ich dich finde
meinte, stand außer Frage, aber wenn jemand –
beispielsweise ihre geschiedene Tochter – sagte, Jack und Alice seien
»mietfreie Mieter«, so war das eine falsche Verwendung des Wortes »mietfrei«.
Mrs. Wicksteed kam übereilt zu dem Schluß, Alice’ schottischer
Akzent wirke sich ungünstig auf ihren gesellschaftlichen Status aus und sei
letztlich schädlicher als ihre exotische, aber anrüchige Tätigkeit als
Tätowiererin. Nach Jacks Eindruck war Mrs. Wicksteed überzeugt, die rollenden
Rs seiner Mutter seien nicht nur ein Verbrechen an der englischen Sprache –
oder jedenfalls an der Sprache, deren Mrs. Wicksteed sich bediente –, sondern
auch ein Makel, der »die arme Alice« für alle Zeit zu Lebensumständen verdammen
werde, die noch schlimmer waren als die in Leith.
Als Ehemalige mit Vermögen und einer unerschütterlichen Loyalität
gegenüber St. Hilda beauftragte Mrs. Wicksteed eine [28] junge Lehrerin dieser
Schule, eine gewisse Miss Caroline Wurtz, damit, Alice’ anstößigen Akzent zu
eliminieren. In Mrs. Wicksteeds Augen verfügte Miss Wurtz nicht nur über eine
makellose Aussprache; es hatte vielmehr auch den Anschein, als fehlte es ihr an
der nötigen Phantasie, um Alice’ Zungen-Rs sympathisch finden zu können.
Möglicherweise ging Miss Wurtz’ Mißbilligung aber auch noch weiter – vielleicht
fand sie, der schottische Akzent sei das am wenigsten Anstößige an dieser
jungen Tätowiererin.
Caroline Wurtz stammte aus Deutschland und war auf dem Umweg über
Edmonton nach Toronto gekommen; sie war eine hervorragende Lehrerin. Sie hätte
jeden von seinem ausländischen Akzent kurieren können, ja schon das Wort ausländisch war etwas, dem sie sich beherzt entgegenwarf.
Und was auch immer der Grund für ihre scheinbare Mißbilligung von Alice war –
sie fand offenbar großen Gefallen an Jack. Sie konnte den Blick nicht von dem
Jungen wenden; manchmal, wenn sie ihn ansah, schien sie in seinen Gesichtszügen
zu lesen, was die Zukunft für ihn bereithielt.
Was Alice betraf, so hatte sie jede Bindung an Schottland
aufgegeben; sie unterwarf sich Carolines Anweisungen in Hinblick auf Diktion
und Artikulation, als gäbe es in ihrer Muttersprache nichts, was ihr lieb und
teuer war. Der Tod ihres Vaters – nach ihrer Ankunft in Halifax, aber vor Jacks
Geburt – sowie Williams Flucht hatten bewirkt, daß sie Miss Wurtz nichts
entgegenzusetzen hatte.
So kam zum Verlust ihrer Tugend auf der einen Seite des Atlantiks
auch noch der Verlust ihres schottischen Akzents auf der anderen hinzu.
»Das war keine große Sache«, vertraute sie Jack eines Tages an. (Der
Junge nahm an, daß seine Mutter ihren Akzent meinte.) Alice schien weder Miss
Wurtz noch Mrs. Wicksteed etwas nachzutragen. Jacks Mutter war keine gebildete
Frau, wußte sich [29] jedoch gut auszudrücken. Mrs. Wicksteed war äußerst gütig
zu ihr und Jack.
Jack liebte die hinkende Lottie. Sie hielt ihn immer an der Hand und
griff oft danach, bevor er nach ihrer greifen konnte. Und wenn sie ihn umarmte,
spürte Jack, daß sie das ebensosehr aus eigennützigen Gründen tat wie aus dem
Bestreben, ihm das Gefühl zu geben, daß er geliebt wurde.
»Wir halten jetzt den Atem an, du und ich«, sagte sie, und wenn sie
das dann taten, Brust an Brust, konnten sie spüren, wie ihre Herzen schlugen.
»Du scheinst am Leben zu sein«, sagte sie dann immer.
»Du scheinst auch am Leben zu sein, Lottie«, antwortete der Junge
und schnappte nach Luft.
Später erfuhr Jack, daß Lottie Prince Edward Island in demselben
Zustand verlassen hatte, in dem seine Mutter gewesen war, als sie das Schiff
nach Halifax bestiegen hatte – nur daß Lotties Kind nach ihrer Ankunft in
Toronto tot geboren worden war. Mrs. Wicksteed und die Vereinigung der
Ehemaligen von St. Hilda waren äußerst gütig zu ihr gewesen. Ganz gleich, ob
man sie als Anglikaner, als Episkopale oder als Anhänger der Church of England
bezeichnete – die Ehemaligen bildeten ein Netzwerk. Und angesichts der
Tatsache, daß Jack und seine Mutter als Heimatlose in die Neue Welt gekommen
waren, konnten sie sich glücklich schätzen, in der Obhut dieser Ehemaligen zu
sein.
[30] 2
Der kleinste Soldat von allen
Stronach
ist ein Name aus Aberdeen, und darum war Bill Stronach, Alice’ Vater, in der
Welt der Tätowierer als Aberdeen-Bill bekannt, auch wenn er in Leith geboren
war und nichts mit Aberdeen zu tun hatte. Laut Alice, seinem einzigen Kind,
hatte Bill Stronach ein betrunkenes
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