Bis in alle Ewigkeit
»Die sind nicht von mir. Sie lagen auf dem Fußabtreter vor der Tür. Ich habe jemanden mit dem Fahrstuhl runterfahren gehört. Wenn du jetzt gleich aus dem Küchenfenster schaust, siehst du ihn vielleicht noch.«
»Den Besen«, sagte Sofja und bekam einen Hustenanfall.
»Was heißt hier Besen! Das sind tolle Rosen! Also wirklich, Sofie!«
Nolik war empört. »Einfach wunderschön, schau doch, riech doch! Du musst unbedingt die Stiele anschneiden und abbrühen.«
»Der Autoschlüssel ist in der Tasche meiner blauen Jacke, geh runter und hol bitte den Besen aus dem Kofferraum. Mir ist das Fieberthermometer runtergefallen, das Quecksilber muss aufgefegt werden.«
»Ah, verstehe.« Nolik nickte. »Wird sofort erledigt. Aber kümmere dich um die Rosen, stell sie ins Wasser.«
Er schloss die Tür hinter sich. Sofja stand noch immer da, den raschelnden Strauß mit beiden Armen umklammernd. Sie besaß keine große Vase. Das einzige Gefäß von passender Größe war der Plastikmülleimer. Sofja nahm die Mülltüte heraus, spülte den Eimer aus und füllte ihn mit Wasser. Während sie noch mit den Blumen beschäftigt war, kam Nolik zurück. Außer dem Besen hatte er eine kleine braune Aktentasche mitgebracht, die er Sofja feierlich überreichte.
»Weißt du noch, was meine Mutter immer sagt, wenn wichtige Dinge verschwinden? Es liegt irgendwo und sagt keinen Ton! Hier, sie lag unter dem Beifahrersitz und hat natürlich kein Wort gesagt. Aber es hätte sie sowieso keiner gehört.«
Es war die Aktentasche ihres Vaters. Sie war genau an jenem schrecklichen Abend vor neun Tagen verschwunden.
»Papa!«, rief Sofja. »Komm her, sieh mal, Nolik hat dein gutes Stück gefunden.«
»Schrei nicht so«, flüsterte der Vater, »ich höre sehr gut. Ich bin hier, bei dir.«
Er stand tatsächlich direkt vor Sofja. In den wenigen Minuten war sein Gesicht eingefallen, gealtert, seine Wangen waren faltig, blass und mit grauen Greisenstoppeln bedeckt, der graue Flaum klebte nun glatt an der Kopfhaut. Seine Augen waren trüb und so hoffnungslos, dass Sofja schauderte.
»Freust du dich gar nicht, dass die Aktentasche sich angefunden hat?«, fragte Sofja leise.
Der Vater schüttelte traurig den Kopf und legte ihr die Hände auf die Schultern. Seine Hände waren warm und zu schwer. Sofja kniff fest die Augen zu, um den Schwindel zu unterdrücken, und als sie sie wieder öffnete, schaute sie in Noliks erschrockenes Gesicht und spürte seine riesigen Pranken auf ihren Schultern.
»Sofie, sieh mich an! Ich bin’s, Sofie! Siehst du mich überhaupt? Hörst du mich? Was hast du da für einen Strick um den Hals?«
»Dummkopf! Das ist kein Strick, das ist ein Verband. Nolik, ich habe eine Mittelohrentzündung, ich habe mir heute Nacht eine Kompresse gemacht, und die ist runtergerutscht. Was ist denn?«
»Du hast gerade mit Dmitri Nikolajewitsch gesprochen.«
»Ja. Und?«
Nolik legte ihr die Hand auf die Stirn.
»Du hast Fieber. Aber nicht so hoch, dass du phantasieren musst. Komm zu dir, bitte.«
Der arme Nolik war so erschrocken, dass sein leichter morgendlicherRausch spurlos verflogen war. Sofja kam zu sich, Nolik zuliebe, damit er sich keine Sorgen machte.
»Alles in Ordnung. Ich bin okay. Ich weiß, dass Papa tot ist, wir haben ihn letzten Mittwoch beerdigt, heute ist der neunte Tag.«
»Puh, Gott sei Dank«, seufzte Nolik. »Du hast nur vergessen zu erwähnen, dass heute auch dein Geburtstag ist. Du bist dreißig geworden, Sofie. In dem Strauß sind einunddreißig Rosen. Eine Rose mehr, weil eine gerade Anzahl Blumen Unglück bringt. Und du stellst den schönen Strauß in den Mülleimer! Dir ist wirklich alles egal! Hast du wenigstens Wasser reingemacht?«
»Natürlich! Schenk mir doch eine schöne große Vase zum Geburtstag, Arnold!«
»Ich hab ein anderes Geschenk für dich. Aber du kriegst es nicht, wenn du mich Arnold nennst, Knolle. Noch einmal, und ich gehe.«
»Ach ja! Du fliegst hochkant raus, wenn du mich Knolle nennst!«
Einen Augenblick lang sahen sie sich so drohend an, als wollten sie sich prügeln. Nolik keuchte empört. Vor zwanzig Jahren hätten sie sich tatsächlich geprügelt. Nolik konnte seinen vollen Namen Arnold nicht ausstehen. Und Sofja ärgerte sich über ihren Kinder-Spitznamen Knolle. Sofort sah sie den Schulflur vor sich, die mit grüner Ölfarbe gestrichenen Wände, das graugestreifte Linoleum, hörte Getrappel und Geschrei: »Lukjanowa 1 ! Zwiebel! Zwiebelknolle!« Nolik ging in dieselbe Schule,
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