Bis ins Koma
ist noch nicht ausgestanden. Du bereitest dich innerlich auf eine neue Runde vor. Verstanden? Irgendwas wird passieren, aber du weißt nicht, was, okay? Du bist genervt, unsicher und sauer. Das spielst du einfach. Bis Jule reinkommt und ›du Scheißkerl‹ sagt. Verstanden?«
In Marvels Kopf schwirrt es. Aber er nickt. Ist ja wahr. So stand es da. So hat er das abgespeichert.
Superpeinlich, das Ganze.
»Tut mir leid«, sagt er. Die Scheinwerfer sind voll auf ihn gerichtet, er sieht nichts.
Er hört Biggi wieder aus dem Off. »Alles auf Anfang! MAZ läuft!«
Er entdeckt im dämmrigen Hintergrund Ronja, die Jule spielt. Sieht, wie Ronja ihre schwere blonde Haarmatte hochhebt, als müsse sie ihrem Nacken Luft zufächeln. Wahrscheinlich ist sie total angezickt, denkt Marvel. Sie steht mit dem Rücken zu ihm, er sieht ihr Gesicht nicht.
»Bitte!«, heißt es plötzlich.
Marvel setzt sich breitbeinig an den Tisch und legt die Arme weit auf die Tischplatte, bis er das Messer in der Hand hält und mit dem Messer irgendwelche Figuren in die Resopalplatte schneidet. Ratsch, ratsch. Ratsch.
Das Geräusch in der Stille.
Plötzlich ein Türenschlagen und dann steht Jule vor ihm und schreit: »Du Scheißkerl!«
Marvin schluckt. Starrt das Mädchen an. Ronja. Nein, Jule. Egal. Seine Filmpartnerin jedenfalls. Boah, die sieht aus wie zehn Klassefrauen auf einmal. Die hat von allem zu viel: zu viel Mähne, zu viel blond, zu viel Busen, zu blaue Augen, zu lange Beine. So ein Heidi-Klum-Typ. Germany’s next Topmodel. Eine
von denen, die sich in Monte Carlo auf Luxusjachten rekeln. Und das soll seine Halbschwester sein? Wie kommt ein Typ wie er, der in einem Reihenhaus zwischen Gartenzwergliebhabern aufgewachsen ist, an eine Halbschwester, die wie eine Sexgöttin aussieht?
Er findet, sie hätten ihn warnen müssen, dass es zu einem Blitzeinschlag kommen könnte, wenn diese Frau auftaucht. Aber sie haben ihn voll ins offene Messer laufen lassen. Er steht da wie ein Trottel und zieht ein Gesicht wie ein Trottel.
Marvel fragt sich beklommen, ob er schon jemals in seinem Leben so nah vor einer solchen Frau gestanden hat. Und warum man es nicht in der Schule lernt, solchen Frauen cool zu begegnen. Und wie er es bringen soll, dass sie nicht nach seinem ersten Satz schon genervt die schönen Augen verdreht. Wie sie ihn jetzt schon ansieht! Als wär er ein Stück Scheiße. Es ist nicht einfach, die richtigen Worte zu finden, wenn eine Superfrau einen wie ein Stück Scheiße anguckt. In diesem Fall weiß er, was er sagen soll. Das heißt, eben wusste er es noch. Jetzt ist in seinem Kopf nur noch weiße, weiche Watte.
»Jetzt du, Marvin!«, hört er Biggi sagen.
Marvel zuckt zusammen. Okay, denkt er, jetzt ich. Jetzt ich. Wie war noch der Text? Ich darf sie nicht angucken oder ich muss mir überlegen, wie sie nach einem Moorbad aussieht. Nach einem Schleimbad. Eklig. So wie er sich Leute, die ihn einschüchtern wollen, immer auf dem Klo vorstellt.
Ronja macht ein gelangweiltes Gesicht. Das kann sie schon mal gut. Arrogant und gelangweilt. Einmal lässt sie ihren Blick taxierend über seinen Körper schweifen, von oben nach unten, und er fühlt, wie seine Haut zu jucken beginnt … Was mach ich hier?, fragt er sich. Irgendwo im dunklen Hintergrund leuchtet ihn ein rotes Schild an: NOTAUSGANG. Das ist für mich, denkt er.
Er schluckt noch mal, richtet sich auf, verengt die Augen zu schmalen Schlitzen. Denkt dabei immer, dass er das Gesicht in Richtung Kamera halten soll, streckt noch schnell energisch das Kinn vor und sagt leise, aber irgendwie scharf und irgendwie mit einem ironischen Unterton: »Hey! Was hör ich? Redet man so mit seinem Bruder?«
Jule keift zurück: »Du glaubst, meine Mama ist deine Putzfrau, oder was?«
»Komm wieder runter«, sagt Marvel, genau in dem Ton, in dem er es zu Mauki sagen würde. »Bleib cool, Mann.«
Und dann sagt er die anderen Sätze, die auf dem Blatt standen, und Jule antwortet und es ist alles ganz einfach. Dann wirft Max Jule an den Kopf, dass die einmal einen genauso breiten Arsch wie ihre Mutter bekommen wird, und daraufhin bricht Jule zusammen und schluchzt und er will flüchten, bleibt dann aber doch und beschließt, sich bei ihr zu entschuldigen.
Nach eineinhalb Minuten, die für Marvel wie gefühlte zwei Stunden dauern, wie ein ganzer Kinofilm, ruft die Regisseurin: »Aus! Danke!«, und Marvel sieht, wie das Rotlicht an der Kamera ausgeht.
Die Regisseurin tauscht mit Ronja/Jule
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