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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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Bett gestellt und auf den zuckenden Körper seiner Mutter gestarrt und einfach keinen vernünftigen Gedanken in seinen Kopf gekriegt.
    Er weiß nicht mehr, wie lange er so gestanden und seine Mutter so gelegen hat. Er weiß aber, dass er auf einmal das Garagentor hörte, das automatisch auf- und zugeht, und wenig später das Klappern des Bügels an der Garderobenwand, und dass er nur noch einen Gedanken hatte: weg hier.
    Er ist also aus dem Zimmer gestürmt, hat seinen verdutzten
Vater im Flur fast über den Haufen gerannt und ist einfach raus. Ohne Jacke, ohne Mütze, ohne Hausschlüssel. Nur einfach weg!
    Der Regen war langsam in Schnee übergegangen, und als er schließlich bei Jojo vor der Tür stand, war er nass bis auf die Boxershorts und bibberte so, dass seine Zähne aufeinanderschlugen.
    Jojos Mutter zog ihn sanft am Arm ins Haus. Er konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand K.-o.-Tropfen in die Limo getan und so alle Energie abgetötet, die vorher in seinem Körper war, und ihn wehrlos gemacht.
    Sie gab ihm, weil er so bibberte, warme, trockene Handtücher und rief nach Jojo, der im Bad war.
    Marvel ließ sich wie einen Sack Kartoffeln von Jojos Mutter durch den Flur in Jojos Zimmer schieben.
    »Er kommt gleich«, sagte seine Mutter tröstend, bevor sie wieder verschwand. Jojos Mutter ist Fußballtrainerin, und dabei hat sie offenbar mitgekriegt, dass es Dinge gibt, die man als Jugendlicher nicht mit Erwachsenen besprechen kann, seien sie auch noch so nett.
    Jojo tauchte schließlich auf, er hatte noch Zahnpastaschaum um den Mund. Die Zahnbürste, die er noch in der Hand hielt, legte er auf sein Geometriebuch, wischte mit dem T-Shirt-Ärmel den Zahnpastaschaum vom Mund und erklärte: »Du siehst scheiße aus.«
    Marvel nickte dumpf.
    Jojo setzte sich neben ihn und genau wie Marvel presste er die Hände zwischen die Knie, mit eingezogenem Kopf. Und wartete.
    Langes Schweigen.
    Marvel kriegte nichts über die Lippen.

    »So schlimm?«, fragte Jojo.
    »Schlimmer«, sagte Marvel.
    Wieder Schweigen.
    Marvel schaute Jojo an. Seinen Kumpel, seinen Freund. Er schaute ihn als, als sehe er ihn heute zum ersten Mal. Jojo in einem T-Shirt, das für irgendeinen Beachklub auf Mallorca Reklame machte, karierte Boxershorts. Seine Beine waren weiß und dünn. Wenn sie unter sich waren, nannte er seine Beine Chickenlegs. Das hatten sie mal in einem Film gehört. Jojo waren seine dünnen, langen Beine peinlich. Aber auch nicht peinlicher als seine dünnen, langen Arme oder seine dünnen, langen Füße. Er hatte Schuhgröße 45, und das bereits mit 12.
    Mit Jojo hatte er schon jede Menge Spaß gehabt. Aber Marvel wusste auf einmal, und es kam in dieser Sekunde wie eine Erleuchtung über ihn, dass Freunde nicht nur dazu da sind, um einen zu bespaßen. Viel wichtiger ist ein Freund in einem Augenblick wie diesem.
    »Ich will ihn nicht mehr sehen«, sagte Marvel.
    »Wen willst du nicht mehr sehen?«
    »Meinen Vater.«
    »Mhm. Und wieso nicht?«
    Marvel holte tief Luft, presste die Finger zwischen die Knie. Seine Finger waren wie Eiszapfen. Sonst hatte er immer ganz warme Hände. In seinen Händen waren die Schneebälle geschmolzen, bevor er sie abfeuern konnte. Er zog die Finger zwischen den Knien heraus und starrte sie an.
    Jojo ließ seinen Freund nicht aus den Augen. Er wartete auf irgendeine weitere Erklärung. Aber da kam nichts. Marvel guckte nur auf seine Hände, mit weit aufgerissenen Augen. Und da sagte Jojo, ohne noch irgendeine Erklärung zu verlangen: »Ist doch klar, dass du heute Nacht hier pennst.«
    Das nennt man Freundschaft.

    Jojo ging dann noch einmal aus dem Zimmer, um seinen Eltern zu sagen, dass Marvel bei ihm pennen würde. Jojos Eltern nickten nur freundlich. Sie fragten nicht, was mit Marvel war. Sie nahmen zu Recht an, dass es etwas war, was die Jungen gut unter sich regeln konnten. Jojos Eltern waren großzügige Menschen und sie hatten ein gastfreundliches Haus.
     
    In der Nacht träumte Marvel, dass er wieder ein kleiner Junge war und auf dem blauen Sofa saß für die Weihnachtskarte. Er trug einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Rüschenhemd. Das Hemd kratzte am Hals. Er saß da und wartete, dass seine Eltern sich rechts und links neben ihn setzen würden, ihren Arm um ihn legten und sie alle zusammen Ameisenscheiße sagten. Aber seine Eltern kamen nicht, und als er allein Ameisenscheiße sagen wollte, kriegte er keinen Ton raus.
     
    Marvel musste am

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