Bis ins Koma
ins Wohnzimmer zurückkam, wo Marvel und seine Mutter so taten, als schmecke ihnen das Abendbrot, stammelte er etwas von einem Idioten aus seiner Lokalredaktion, der wieder mit Bildunterzeilen nicht zurechtgekommen war. Der kalte Blick von Marvins Mutter ließ den Vater dabei bis unter die Haarwurzeln erröten.
Aber dann war diese Sache passiert.
Dieser Abend, den Marvel am liebsten aus seinem Gedächtnis streichen würde. Es war Dezember, zwischen dem zweiten und dem dritten Advent, und sie sollten am nächsten Tag einen Vokabeltest schreiben. Er paukte also in seinem Zimmer englische Vokabeln, während seine Mutter im Wohnzimmer die Weihnachtspost an die Verwandtschaft, Freunde und die Kollegen im Krankenhaus adressierte. Das machte seine Mutter, solange er denken konnte. Jedes Jahr im November musste er sich aufs Sofa setzen, in die Mitte, seine Mutter saß rechts von ihm. Sein Vater hatte die Digicam auf ein Stativ geschraubt und blickte durch den Sucher. Seine Mutter trug etwas Schickes, sein Vater ein weißes Hemd und dann rief sein Vater: »Los!«, und warf sich mit dem Selbstauslöserkabel in der Hand neben Marvel aufs Sofa und alle mussten gleichzeitig »Ameisenscheiße« sagen, weil man, wenn man »Ameisenscheiße« sagt, das fotogenste Gesicht macht. Marvel zwischen seinem Vater und seiner Mutter auf dem blauen Velourssofa: Dieses Foto wurde eingescannt und außen auf eine Faltkarte gedruckt und innen
stand: Familie Keller wünscht allen ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Diese Karten tütete seine Mutter an dem Abend ein und adressierte fröhlich die Briefumschläge. Sie hatte keine Ahnung, dass in ein paar Minuten ihre Welt implodieren würde. Wahrscheinlich hörte sie Musik, daran kann Marvel sich nicht mehr erinnern. Aber an das Geräusch der Türklingel. Danach hat sich monatelang seine Kopfhaut zusammengezogen, wenn die Türklingel schrillte.
Marvels Vater war an dem Abend noch in der Redaktion. Im Elbtunnel war ein Tanklaster in Brand geraten und hatte vier andere Fahrzeuge in Schutt und Asche gelegt. Mindestens sieben Tote. Sein Vater hatte Fotos von dem Tunnelchaos gemacht. Das sollte das Aufmacherfoto am nächsten Morgen sein. Wenn in der Welt etwas Grässliches passiert, verkaufen sich Zeitungen besonders gut. Die Leute sind geil auf gruselige Nachrichten. Aber das ist nicht nur in Deutschland so, sondern überall auf der Welt.
Es klingelte also und seine Mutter rief: »Marvin! Gehst du mal an die Tür? Ist bestimmt für dich!«
Damals kam es öfter vor, dass entweder Mauki oder Jojo, da die beiden in der Nähe wohnten, noch kurz vorbeikamen, um irgendwelche neuen CDs zu brennen. Marvels Vater hatte ihnen erlaubt, dafür seinen Supercomputer zu benutzen.
Es war aber nicht Jojo und auch nicht Mauki. Vor der Tür stand eine junge blonde Frau in einem Regenmantel, den sie über der Brust zusammenhielt. Es regnete und sie hatte keinen Schirm dabei. Ihre Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht, aber das schien sie gar nicht zu merken. Sie war sehr aufgeregt. »Ist deine Mutter da?«, fragte sie nur.
Später hat Marvel sich oft gefragt, wie er das Unheil hätte abwenden können. Vielleicht hätte er sie irgendwie abwimmeln
sollen, bevor sie mit seiner Mutter sprechen konnte. Wenn er die Zeit bis zu diesem Moment zurückdrehen könnte, würde er die Tür aufreißen und vor ihrer Nase wieder zuschlagen.
Aber am nächsten Tag war diese Englischarbeit, von der seine Zwischennote abhing, und außerdem wollte die Frau ja seine Mutter sprechen. Ging es ihn irgendwas an, wenn jemand seine Mutter sprechen wollte?
Also riss er die Tür weit auf und sagte: »Ja. Sie ist da. Kommen Sie?«
Und während er durch den Flur voranging, deutete er auf die Wohnzimmertür, die halb offen stand, und sagte: »Da.« Und er weiß noch, dass er seiner Mutter zurief: »Ätsch! War gar nicht für mich!«
Für dieses Ätsch könnte er sich heute noch ohrfeigen.
Und das Nächste, woran er sich erinnert, ist, wie seine Mutter bei ihm im Zimmer stand, sich zitternd am Türrahmen festhielt, das Gesicht kalkweiß, und tonlos sagte: »Dein Vater hat eine Geliebte und die kriegt von ihm ein Kind! Und das sagt die mir einfach so ins Gesicht!«
Dann hat seine Mutter die Hände vors Gesicht geschlagen, ist zu Marvels Bett getaumelt und hat sich einfach reinfallen lassen, bäuchlings, und ihr ganzer Körper war nur noch ein unkontrolliertes Zucken. Marvel war aufgestanden und hat sich neben sein
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