Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
auch für Charlie. Zwar hatten sie es auf mich abgesehen, aber mein Vater, der im Nebenzimmer schlief, war nur eine Haaresbreite von mir entfernt. Mein Geruch würde sie hierherführen, ob ich zu Hause war oder nicht …
Die Angst schüttelte mich, bis mir die Zähne klapperten.
Um mich zu beruhigen, stellte ich mir das Unmögliche vor: Ich malte mir aus, die großen Wölfe hätten Laurent im Wald eingeholt und den Unsterblichen genauso erledigt, wie sie es mit jedem normalen Menschen gemacht hätten. Obwohl das eine absurde Vorstellung war, hatte sie etwas Tröstliches. Wenn die Wölfe ihn gefasst hatten, konnte er Victoria nicht erzählen, dass ich hier ganz allein war. Wenn er nicht zurückkam, dachte sie vielleicht, ich stünde immer noch unter dem Schutz der Cullens. Wenn die Wölfe so einen Kampf doch nur gewinnen könnten …
Meine guten Vampire würden nie wiederkommen; wie angenehm war die Vorstellung, die anderen könnten auch verschwinden.
Ich kniff die Augen fest zu und wartete auf den Schlaf – ich konnte es fast nicht erwarten, dass der Albtraum begann. Besser als das blasse, schöne Gesicht, das mich jetzt hinter meinen Lidern anlächelte.
In meiner Phantasie waren Victorias Augen schwarz vor Durst und leuchtend vor Erwartung, genüsslich bleckte sie die blitzenden Zähne. Ihre orangeroten Haare loderten wie das Feuer und flatterten ihr wild ums Gesicht.
Ich hatte wieder Laurents Worte im Ohr: Wenn du wüsstest, was sie sich für dich ausgedacht hat …
Ich presste mir die Faust vor den Mund, um nicht loszuschreien.
D ie Gang
Ich war jeden Morgen überrascht, wenn ich die Augen aufschlug und feststellte, dass ich wieder eine Nacht überlebt hatte. Sobald sich die Überraschung gelegt hatte, fing mein Herz an zu rasen und meine Handflächen fingen an zu schwitzen; ich konnte nicht richtig atmen, bis ich aufgestanden war und mich vergewissert hatte, dass auch Charlie noch am Leben war.
Ich merkte, dass er sich Sorgen machte, weil ich bei jedem Geräusch zusammenfuhr und immer wieder ohne ersichtlichen Grund blass wurde. Den Fragen nach zu urteilen, die er hin und wieder stellte, schrieb er meine Veränderung Jacobs Fernbleiben zu.
Die allgegenwärtige Panik lenkte mich von der Tatsache ab, dass schon wieder eine Woche ohne einen Anruf von Jacob vergangen war. Aber wenn ich mich auf mein normales Leben konzentrierte – sofern mein Leben überhaupt normal zu nennen war –, machte mich das sehr traurig.
Er fehlte mir wahnsinnig.
Das Alleinsein war schon schlimm genug gewesen, bevor ich in Todesangst gelebt hatte. Jetzt sehnte ich mich mehr denn je nach seinem sorglosen Lachen und seinem ansteckenden Grinsen. Ich brauchte die sichere Normalität seiner selbstgezimmerten Werkstatt und seiner warmen Hand um meine kalten Finger.
Halb hatte ich damit gerechnet, dass er Montag anrufen würde. Wenn sich mit Embry irgendwas zum Guten gewendet hatte, würde er mir das dann nicht erzählen wollen? Ich wollte so gern glauben, dass ihn die ganze Zeit nur die Sorge um seinen Freund umtrieb, nicht dass er mich fallengelassen hatte.
Am Dienstag rief ich ihn an, aber niemand ging ans Telefon. Ob es immer noch Probleme mit den Leitungen gab? Oder hatte Billy sich ein Telefon mit Display zugelegt, auf dem er unsere Nummer sehen konnte?
Mittwoch rief ich bis nach elf Uhr abends alle halbe Stunde an. Ich sehnte mich verzweifelt danach, Jacobs warme Stimme zu hören.
Donnerstag saß ich eine Stunde lang vor unserem Haus in meinem Transporter, Türen verriegelt, Schlüssel in der Hand. Ich überlegte hin und her und versuchte, einen schnellen Ausflug nach La Push vor mir zu rechtfertigen, aber es ging einfach nicht.
Ich war mir sicher, dass Laurent inzwischen wieder bei Victoria war. Wenn ich nach La Push fuhr, riskierte ich es, einen von ihnen dorthin zu locken. Und dann erwischten sie mich womöglich, wenn Jake in der Nähe war. So weh es auch tat, ich wusste doch, dass es für Jacob besser war, mir aus dem Weg zu gehen. Sicherer.
Es war schon schlimm genug, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich Charlie schützen konnte. Nachts war es am wahrscheinlichsten, dass sie mich aufsuchen würden, und was könnte ich mir einfallen lassen, um Charlie aus dem Haus zu treiben? Wenn ich ihm die Wahrheit sagte, würden sie mich in eine Gummizelle sperren. Das würde ich ertragen – sogar mit Freuden –, wenn er dadurch außer Gefahr wäre. Aber Victoria würde trotzdem als Erstes hierherkommen, um nach mir zu suchen.
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