Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
gehen.«
»Ja, ich weiß. Keine Sorge, wird nicht wieder vorkommen.« Ich schauderte.
Erst jetzt schien er mich richtig anzusehen. Mir fiel ein, dass ich einige Zeit auf dem Waldboden verbracht hatte, bestimmt sah ich ziemlich wüst aus.
»Was ist passiert?«, wollte Charlie wissen.
Wieder entschied ich, dass es am besten war, die Wahrheit oder jedenfalls einen Teil der Wahrheit zu erzählen. Ich war zu erschüttert, um so zu tun, als wäre ich frohgemut durch die Wälder gestapft.
»Ich hab den Bären gesehen.« Das sollte ruhig herauskommen, doch meine Stimme war hoch und zittrig. »Aber es ist gar kein Bär – es ist eine Art Wolf. Und es sind fünf. Ein großer schwarzer, ein grauer, ein rostbrauner …«
Charlie riss die Augen vor Entsetzen weit auf. Schnell kam er auf mich zu und packte mich bei den Schultern.
»Ist alles in Ordnung?«
Ich nickte schwach.
»Erzähl mir, was passiert ist.«
»Sie haben mich nicht weiter beachtet. Aber als sie weg waren, bin ich abgehauen und ziemlich oft hingefallen.«
Er ließ meine Schultern los und umarmte mich. Eine lange Weile sagte er nichts.
»Wölfe«, murmelte er.
»Was?«
»Die Ranger haben gesagt, dass es keine Bärenspuren sind – aber Wölfe werden doch nicht so groß …«
»Die waren riesig .«
»Wie viele, hast du gesagt, waren es?«
»Fünf.«
Charlie schüttelte den Kopf und runzelte besorgt die Stirn. Dann sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Und von jetzt an keine Wanderungen mehr.«
»Versprochen«, sagte ich aus tiefstem Herzen.
Charlie rief auf der Wache an, um zu berichten, was ich gesehen hatte. Ich schwindelte ein bisschen, was die genaue Stelle anging – ich behauptete, ich sei auf dem Wanderweg Richtung Norden gewesen. Charlie sollte nicht erfahren, wie tief ich trotz seiner Warnung in den Wald gegangen war, und vor allem wollte ich nicht, dass irgendwer dort herumwanderte, wo Laurent womöglich nach mir suchte. Bei dem Gedanken wurde mir übel.
»Hast du Hunger?«, fragte Charlie, als er aufgelegt hatte.
Ich schüttelte den Kopf, obwohl mein Magen ganz leer sein musste. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen.
»Ich bin nur müde«, sagte ich und ging zur Treppe.
»He«, sagte Charlie. Er klang auf einmal wieder misstrauisch. »Hattest du nicht gesagt, Jacob wär heute den ganzen Tag weg?«
»Das hat Billy gesagt«, antwortete ich. Die Frage verwirrte mich.
Er schaute mir einen Moment ins Gesicht, schien aber zufrieden mit dem, was er sah.
»Hm.«
»Wieso?«, fragte ich. In seiner Frage hatte der Vorwurf mitgeschwungen, ich hätte ihn heute Morgen belogen. Und zwar nicht nur in Bezug auf das Mathelernen mit Jessica.
»Na ja, als ich Harry abgeholt hab, da hab ich unterwegs vor dem Laden Jacob mit ein paar Kumpels gesehen. Ich hab ihm zugewinkt, aber er … na ja, vielleicht hat er mich auch gar nicht gesehen. Ich glaub, er hatte Streit mit seinen Kumpels. Er sah komisch aus, als würde er sich über irgendwas aufregen. Und … er hat sich verändert. Man kann ja direkt zugucken, wie der wächst! Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, ist er wieder ein Stück größer.«
»Billy hat gesagt, Jake und seine Freunde wollten nach Port Angeles ins Kino. Wahrscheinlich haben sie nur auf jemanden gewartet, der mitwollte.«
»Aha.« Charlie nickte und ging zurück in die Küche.
Ich stand im Flur und dachte darüber nach, dass Jacob Streit mit seinen Freunden hatte. Ich fragte mich, ob er Embry auf die Sache mit Sam angesprochen hatte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er mich heute versetzt hatte. Wenn das bedeutete, dass er die Sache mit Embry klären konnte, ging das in Ordnung.
Bevor ich nach oben in mein Zimmer ging, überprüfte ich noch einmal, ob die Haustür abgeschlossen war. Ich wusste, dass das albern war. Was könnte ein Schloss schon gegen die Monster ausrichten, die ich heute Nachmittag gesehen hatte? Für die Wölfe dürfte die Klinke ausreichen, weil sie keinen Daumen zum Greifen hatten. Aber wenn Laurent hierherkäme …
Oder … Victoria .
Ich legte mich ins Bett, aber ich zitterte zu sehr, um an Schlaf überhaupt zu denken. Ich rollte mich unter der Decke zusammen und sah den schrecklichen Tatsachen ins Auge.
Ich konnte nichts tun. Es gab keine Vorsichtsmaßnahmen, die ich treffen könnte. Ich konnte mich nirgendwo verstecken. Es gab niemanden, der mir helfen konnte.
Mit einem elenden Gefühl im Bauch wurde mir bewusst, dass die Lage sogar noch schlimmer war. Denn all das galt
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