Jerry Cotton - 0594 - Die Herrin der Schreckenskammer
Er kam mit der Linken voll durch. Ich riß meine Deckung hoch und spürte, wie die Schlagwirkung meine Knie weich machte. Der Angreifer setzte nach. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite, noch immer.
Ich kannte ihn nicht, aber ich wußte, daß ich ihn nicht vergessen würde. Er hatte den Punch eines Dampfhammers und die Technik eines Ringprofis. Seine Schläge kamen kurz und trocken, sie waren kaum im Ansatz erkennbar.
Ich ließ ihn einmal leerlaufen. Dann stoppte ich ihn mit einem knallharten Haken. In seinen dunklen Augen stand Erstaunen. Er ging auf Distanz. Ich stockte meine Reserven auf und ließ ihn kommen.
Seine Beinarbeit war ungenau und verwirrend. Ich setzte eine Dublette an. Er reagierte erneut mit der Linken und traf mich voll auf den Punkt.
Ich sackte in die Knie. Die Welt verwandelte sich vor meinen Augen in ein schillerndes Karussell. Es drehte sich immer schneller. Irgend etwas knallte gegen meine Schläfe. Ich kippte vornüber und schlug mit dem Kopf auf den schmutzigen Asphalt.
Würgende Übelkeit zerrte an meiner Kehle. Ich stemmte mich gegen die aufkommende Ohnmacht, obwohl ich spürte, daß das Rennen für mich gelaufen war. Der Gangster hatte mich geschafft.
Ich lag in einer schmalen Gasse, dem Yard Alley im südlichen Brooklyn. In der Luft hing der Geruch von Bratfett und Zwiebeln. Er stammte aus den Küchen und Abzugsschächten der kleinen, billigen Lokale, die mit ihren Rückfronten die Gasse säumten. Es war zwei Uhr nachts.
»Komm, Kleiner«, höhnte der Gangster. »Hier wird nicht geschlafen.«
Seine Fußspitze traf meine Rippen. Es tat nicht weh, aber es machte mich wütend. Ich gehöre hicht zu den Leuten, die sich gern treten lassen. Ich quälte mich auf die Beine und lehnte mich mit der Schulter gegen eine Hauswand. Ich war fertig, aber noch nicht am Ende.
Der Gangster war nur zwei Schritte von mir entfernt. Sein hastiges Atmen verriet, daß er sich ziemlich verausgabt hatte. Das Licht der nahen Laterne fiel auf sein markantes Gesicht. Er sah wirklich nicht übel aus. Ein Frauentyp, breitschultrig und schmalhüftig, selbstsicher bis zur Arroganz, hart und doch geschmeidig.
Er war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt. Als er seinen Krawattenknoten zurechtschob, stellte ich fest, daß der Schlips sorgfältig auf das Silbergrau seines maßgeschneiderten Anzuges abgestimmt war.
Er wirkte weder wie ein kleinkarierter Wegelagerer, noch war er der Typ der Gassenhyäne. Aber was wollte er von mir, wenn ihn meine Brieftasche nicht interessierte?
Er holte eine flache anthrazitfarbige Pistole aus seinem Hosenbund.
»Geh voran, Kleiner«, sagte er.
Ich gehorchte. Es gab keine andere Möglichkeit. In meinen Knien war nicht mehr Kraft als in einem mißratenen Grießpudding. Immerhin blieben mir noch ein paar Chancen. Der Kampf hatte erst begonnen.
»Was wollen Sie von mir?« fragte ich.
Er grinste. Sein Grinsen war verschlagen und überheblich. Es bewies, wie sehr er die Situation genoß. Er war Sieger, und das ließ er mich spüren.
»Dein Leben, Bruno«, sagte er.
***
Ich sog die Luft durch die Nase und wußte plötzlich, was los war. Er hatte mich verwechselt. Er war hinter einem Mann her, der Bruno hieß.
Ich konnte beweisen, daß er sich geirrt hatte. Aber ich war nicht daran interessiert. Nicht jetzt, nicht im Augenblick. Ich wollte herausfinden, weshalb der Mann namens Bruno sterben sollte.
Ich stieß mich von der Mauer ab und marschierte los. Der Gangster folgte mir. Er trug Schuhe mit Gummisohlen und bewegte sich völlig lautlos. Wir erreichten die Wolvhampton Road. Die Straße war schmal und menschenleer.
»Links runter«, sagte der Gangster.
Ich befolgte die Aufforderung. Nach etwa zwanzig Schritt sagte er: »Stop!«
Ich blieb stehen und wandte mich ihm langsam zu. Er hatte die Hand mit der Pistole in die Jackentasche geschoben und sah mich ruhig an. Unter seinem dünnen Anzugstoff zeichnete sich die Waffenmündung deutlich ab. Sie wies genau auf mich.
»Einsteigen«, befahl er. Er hatte eine dunkle glatte Stimme.
Ich drehte den Kopf zur Seite. Am Straßenrand parkte ein Kastenlieferwagen. Die brandneue Firmenaufschrift roch nach frischer Farbe. Ich konnte den Namen einer bekannten Molkerei erkennen. Der Wagen war entweder gestohlen worden, oder der Gangster hatte ihn aus Tarnungsgründen mit diesem Namen versehen.
Der Wagen hatte eine Schiebetür an der Seite. Hinten befand sich eine Klapptür. Der Gangster zeigte mit dem Kopf auf die hintere Tür. Ich
Weitere Kostenlose Bücher