Bitter im Abgang
miteinander. Und zum ersten Mal spürte er den Gleichklang von Leidenschaft und Gefühl und dachte, dass sich das irdische und das himmlische Paradies am selben Ort befanden, in seinen Armen, unter den Lidern seiner Frau. Er liebte sie, indem er sie fest an sich drückte, ohne je den Blick von ihren Augen zu lösen, bis ihr Puls und Atem eins wurden, für eine Zeit, die keiner von beiden hätte messen können. Erst ganz am Schluss merkten sie, wie unsere Stammeseltern nach dem ersten Sündenfall, dass sie nackt waren, doch keiner von beiden empfand Scham.
An den folgenden Tagen nutzten sie jede Gelegenheit, sich allein zu treffen, wie Kinder, die ein neues, bis dahin kaum vorstellbares Spiel entdeckt haben. Dann kam der Befehl von Moresco. Diesmal für sie.
25
La Morra,
Montag, 26. April 2011, 13 Uhr
«Sieh mal, als ich 1978 in die Oberstufe kam, vollzog sich gerade ein grundlegender Umbruch. Auf einmal war alles überholt, wofür mein Vater sich interessierte: die Politik, das politische Engagement, die Partei. Und es zählte plötzlich all das, wofür ich mich interessierte.»
Beim Mittagessen ging Roberto Moresco auf Nummer sicher und führte Sylvie in das Restaurant in La Morra, hoch über den Weinbergen gelegen, mit einem fantastischen Ausblick auf das endlose Hügelmeer. Er vermied es tunlichst, den eigenen Wein zu bestellen, und orderte einen kalten, fruchtigen Brut, einen, der nicht in Mode war, weil er keinen Namen hatte, weder Champagner noch Prosecco. Die Besitzerin des Lokals, eine alte Freundin der Familie, bestand darauf, dass sie alles probierten, auch ein Dessert, das es nur hier gab, ein Schokoladen-Tabak-Soufflé. Trotzdem schaffte es Sylvie auch gegen Ende des Essens nicht, Roberto dazu zu bewegen, über sich und sein Verhältnis zu diesem übergroßen Vater zu reden. Alles, was sie ihm entlocken konnte, war eine Episode aus dem Sommer 1983, als er gerade das Abitur gemacht hatte.
Roberto Moresco erzählte ihr von der Wette, die er damals mit seinen drei besten Freunden abgeschlossen hatte. Eigentlich nichts Sensationelles, es ging darum, wer in der Zeit von Juli bis November die meisten Frauen abschleppte. Roberto sollte Zeuge und Richter sein. «Theoretisch hatten alle die gleichen Voraussetzungen. Alle drei waren weder schön noch hässlich. Und alle frönten dem neuen Zeitgeist. Nach den Jahren der Demos und Sitzblockaden hatten die jungen Leute jetzt anderes im Sinn. Im Übrigen auch mein Vater, er redete weiterhin vom Kommunismus, machte derweil aber viel Geld.»
«Ja, aber was wurde aus der Wette?»
«Sandro war Klassenprimus und ließ wie immer nichts unversucht. Er nahm Saxophonunterricht und lernte Portugiesisch, weil er irgendwo gelesen hatte, Saxophon sei das sinnlichste Instrument und Portugiesisch die sinnlichste Sprache. Außerdem machte er einen Tangokurs und konnte gut kochen. Er ging ins Fitnessstudio und bekam richtige Brustmuskeln. Aber all das half nichts.»
«Bestimmt alles eine Frage des mangelnden Selbstvertrauens.»
«Genau. Selbstvertrauen ist wichtiger als Brustmuskeln, auch als Arm- und Beinmuskeln. Mario dagegen hatte keine Probleme. In jenem Sommer machte er Werbung für die Diskothek am Seeufer. Tagsüber zog er über die Dörfer, um die Mädchen einzuladen. Abends suchte er sich dann eine aus, gab dem DJ ein Zeichen, damit er den neuesten Hit auflegte, und schmiss sich dann mit wilden Verrenkungen an sie, Becken an Becken. Wenn die Erwählte ging, kam die nächste an die Reihe. Wenn die sich an ihn drückte, war’s geschafft.»
«Und wie endete es gewöhnlich?»
«Irgendeine, die seine Annäherungsversuche erwiderte, fand er immer.»
«Und der dritte?»
«Andrea fuhr nach Lourdes.»
Sylvie öffnete ihren schönen rosa Mund und lachte aus vollem Hals.
«Das ist kein Witz. Er fuhr als freiwilliger Helfer nach Lourdes.»
«Aber hatte er nicht auch gewettet?»
«Doch, genau deshalb. Er dachte, dass er in Rimini oder auf Ibiza keine Chance hätte. Zuviel Konkurrenz. Und Mädchen, die gab es auch in Lourdes, sogar massenhaft. Diese ehrenamtlichen Helferinnenverbrachten den lieben langen Tag in Gesellschaft einer leidgeplagten Menschheit, Schwerkranke ohne Hoffnung, menschliche Wracks. Andrea aber hatte für jeden ein Lächeln und war immer nett. Deshalb waren die Mädels froh, wenn sie abends einen gesunden, passablen jungen Mann um sich hatten. Außerdem waren sie katholisch und hatten einen Begriff von Sünde …»
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