Bitter im Abgang
Und sie, die Sieger, haben auf uns geschossen. Ganz gezielt, um uns umzubringen.»
Da bemerkte der Inspektor ein Foto an der Wand, ein junger Mann im Schwarzhemd, braungebrannt und mit widerspenstigem Schopf.
«Mein Bruder. Heimtückisch erschossen.»
«Von wem?»
«Von Alberto. Morescos Freund. Der, von dem er erpresst wurde.»
«Alberto hat ihn erpresst, wegen des Goldes der Vierten Armee?»
«Ja, ich glaube schon. Auf jeden Fall hat Alberto mit Morescos Frau geschlafen, als Strafe für eine andere uralte Geschichte.»
«Und warum sollte die Frau eines Mannes wie Moresco sich mit einem anderen einlassen?»
«Keine Ahnung. Vielleicht weil auch sie ihre Schwester rächen wollte.»
28
Alba,
Samstag, 21. April 1945, 7 Uhr
Lire, Francs, Mark. Und Münzen, jede Menge Münzen. Moresco wusste gar nicht wohin mit all dem Gold. Denn der Schatz bestand nicht bloß aus Säcken und Kassetten mit Banknoten, sondern auch aus Goldbarren, Schmuck, Statuen, Gemälden. In aller Eile musste er ein altes verfallenes Bauernhaus requirieren, um alles unterbringen zu können.
Vittoria hatte nicht weiter nachgefragt, aber auch keine große Begeisterung gezeigt. Seit ihre Schwester auf diese entsetzliche Art umgekommen war, spielte sie nur noch die Beleidigte, als sei das Schicksal ihr etwas schuldig, und kein Glück der Welt konnte groß genug sein, um diese Schuld zu begleichen.
Offensichtlich, dachte Moresco, verfügten die Soldaten der Vierten Armee, die die Sachen beschlagnahmt hatten, neben einem großen Glauben auch über einen gewissen Geschmack. Denn unter den erbeuteten Schätzen befand sich auch eine Sammlung sehrschöner Madonnen: Holzstatuen, barocke Gemälde, ein paar wertvolle Marmorfiguren und das Bildnis einer schwarzen Madonna, die große Ähnlichkeit hatte mit jener aus der Provence, die von den Zigeunern verehrt wird. Don Tadini hatte sie nicht gewollt – fast als hätte er befürchtet, mit ihr seine Madonna Moretta zu beleidigen; womöglich riskierte man, sie eifersüchtig zu machen.
«Eine kleine Wiedergutmachung für Napoleons Razzien», sagte Moresco grinsend. Alberto antwortete nicht. Andere Truhen enthielten Papiere, Briefe, Buchhaltungsunterlagen. Moresco nahm sich vor, sie später in Ruhe durchzusehen. Vielleicht konnte man damit auch noch etwas verdienen. Dann beschloss er, die letzten Skrupel abzuwerfen.
«Alberto, all das könnte auch dein Leben verändern und das von Esterina. Sei doch nicht so stur. Denk nach, und überleg es dir noch mal.»
Alberto verzog verächtlich das Gesicht.
«Nun komm schon, Blonder …»
«Nenn mich nicht Blonder.»
«Nun hab dich nicht so, guck wenigstens mal, ob dir irgendetwas gefällt. Ein Präsent für deine Frau», lächelte er, krampfhaft bemüht, den Komplizen zu spielen. «Für deine neue Frau.»
Alberto sah, dass sich unter den Wertsachen auch deutsche Andenken befanden. Geschenke der deutschenKameraden an die italienischen Waffenbrüder. Oder Beutestücke, die man den ehemaligen Verbündeten und baldigen Feinden gestohlen hatte. Oder Trophäen aus dem kurzen, hoffnungslosen Krieg nach dem 8. September. Alberto nahm sich ein deutsches Offiziersabzeichen, steckte es ein und ging ohne ein Wort, den Blick starr auf Moresco geheftet.
29
San Benedetto Belbo,
Samstag, 30. November 1963
Schon in der ersten Kurve rutschte er aus; und bis zum Ziel ging es noch zweihundert Meter steil bergab.
«Johnny, meinst du wirklich, du schaffst es? Sollen wir nicht lieber gleich hier reden?»
Aber Braida wollte unbedingt bis hinunter ans Ufer des Belbo. Auf den letzten Metern musste Alberto ihn fast tragen. Der weiche Teppich aus Gras und Moos war noch genauso wie damals in ihrer Kindheit, als sie hier stundenlang auf dem Rücken lagen, um in die Wolken zu schauen. Zwischendurch standen sie auf, um Flusskrebse zu fangen, die sie roh aßen, oder Frösche, die abends zu Hause frittiert auf den Tisch kamen. Danach streckten sie sich wieder auf dem grünen Teppich aus.
Diesmal wartete Alberto nicht auf Amilcares Fragen. Diesmal hatte er selbst eine Geschichte zu erzählen. Und dann sprudelte es aus ihm heraus, die ganzeGeschichte mit Virginia, alles, was er noch nie jemandem anvertraut hatte. Aus Scham, aus Respekt vor ihrem Andenken, in dem Glauben, der Schmerz sei Privatsache. Jetzt aber wollte er, dass die Welt und vor allem die Stadt die wahre Geschichte erführe. Da war es auch egal, wenn in Alba kaum jemand Braidas Buch kaufte. Trotzdem würde sich innerhalb
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