Bitter im Abgang
ganzes Leben lang habe ich nichts anderes getan, als Geschichten aus unserer Stadt aufzuschreiben.»
«Deshalb bist du hier nicht sonderlich beliebt. Aber die Geschichten sind gut. Eines Tages wird man sie lesen und zu schätzen wissen, und sie werden Alba zum Ruhm gereichen. Umso mehr schuldest du demjenigen etwas, der dir das Schreiben beigebracht hat.»
«Von Ihnen habe ich schreiben gelernt und offen zu reden, Pater.»
«Dann werde auch ich offen reden. Es geht um eine Sache, an der du gerade arbeitest. Bist du sicher, dass es sich lohnt, darauf die Tage zu verwenden, die unsere letzten sein könnten? Die wertvollsten?»
«Auf jeden Fall. Und woher wissen Sie, woran ich gerade arbeite?»
«Lassen wir das. Ich meine, diese Geschichte solltest du nicht aufschreiben.»
«Und sie lieber mit ins Grab nehmen?»
«Wenn es sein muss, ja. Genau wie ich. Das wäre besser für alle.»
«Und wieso?»
«Weil Schätze einen Sinn haben, wenn man sie nutzbringend anlegt. Wenn man sie den richtigen Leuten gibt, solchen, die die Früchte in der Stadt verteilen. Wenn allerdings Streit, Neid, Diebstahl, Groll die Überhand gewinnen …»
Amilcare Braida unterbrach ihn mit dem bestimmten Ton desjenigen, der wenig Zeit hat: «Pater, wo ist das Geld geblieben? Zumindest Ihr Anteil?»
«Leute, die nur hören wollen, was sie ohnehin schon wissen, konnte ich noch nie leiden. Das passt nicht zu dir.»
«Wo ist das Geld?»
«Am Seeufer. Am richtigen Platz. Gib mir dein Wort, Milcare, und ich werde nicht bloß für dich beten, sondern dafür sorgen, dass du in Rom von den Ärzten des Papstes behandelt wirst.»
«Sonst?»
«Sonst bete ich trotzdem für dich, für deine Seele.»
33
Castellinaldo,
Montag, 26. April 2011, 19 Uhr
Es war schon fast dunkel. Der Frühling ließ auf sich warten, und ein kalter Sonnenuntergang senkte sich auf den Hof mit den beiden Kirschbäumen, die noch weit davon entfernt waren, Früchte anzusetzen.
«Signor Rinaldi, haben Sie einen Moment Zeit für mich?»
«Alberto. Sagen Sie Alberto, so nennen mich alle.»
«Gut, Alberto. Wie Sie sich sicher denken können, bin ich wegen des Falls Moresco hier. Sie waren doch sein Freund, nicht wahr?»
«Freund ist ein großes Wort. Sagen wir lieber, ich habe ihn gut gekannt.»
«Seit wann?»
«Das können Sie sich doch denken. Wir waren zusammen im Krieg. Wir haben alles geteilt. Den Hunger, die Strapazen, die Schießereien. Dann ist er reich geworden. Ich nicht, wie Sie sehen», sagte er und zeigte dabei auf den Hühnerstall und die Kaninchen.
«Aber ihr hattet etwas gemeinsam?»
«Werden Sie nicht vulgär. Lassen Sie die Anspielungen.»
«Ich werde nicht vulgär sein, sondern offen. Sie hatten ein Verhältnis mit der Frau von Moresco?»
«Ja. Ist das vielleicht ein Vergehen?»
«Nein, das ist kein Vergehen. Mord aber schon.»
«Und warum hätte ich ihn umbringen sollen? Theoretisch hätte er mich umbringen müssen. Ehrenmord. So nennt man das doch im Süden, nicht wahr?»
«Haben Sie Moresco erpresst? Wegen des Schatzes?»
Alberto schüttete das ganze Futter auf einmal aus und bedeutete dem Inspektor, ihm ins Haus zu folgen. Er schloss Tür und Fensterläden und ließ nur einen Spalt offen, durch den das Licht nach draußen fiel. Lange saß er schweigend da, was der Polizist respektierte. Dann begann er zu sprechen.
«Ich habe Moresco nicht erpresst. Ich habe ihn auch nicht beraubt, er hat mich beraubt.» «Sie haben Ihren Anteil nie bekommen?» «Ich habe ihn nie gewollt. Moresco hat mir etwas viel Wertvolleres genommen. Und er hat nur einen Teil seiner Schuld beglichen, indem er mir den Lebensunterhalt finanzierte, während er überall auf der Welt Millionen verdiente. Sein Sohn lebt wie ein Fürst. Ich habe keine Kinder. Ich bin seit sieben Jahren Witwer. Eigentlich seit fast siebzig Jahren.»
Erst jetzt bemerkte der Inspektor das große Foto an der Wand. Darauf sah man drei junge Frauen, Arm in Arm.
«Sie sehen sich ähnlich, nicht wahr?»
«Sehr.»
«Aber nur zwei sind Schwestern.»
«Wer sind sie?»
«Die erste ist Virginia. Dann Vittoria, ihre Schwester. Und die letzte, rechts, das ist ihre Freundin Esterina. Meine Frau.»
Wieder schwieg Alberto lange. Dann fragte er schließlich: «Sie haben mit diesem Faschisten gesprochen, stimmt’s? Vergnano hat mich beschuldigt, nicht wahr?»
Der Inspektor antwortete nicht.
«So weit sind wir also schon? Die Polizei glaubt lieber den Faschisten als den Partisanen, die für die Freiheit
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