Bitteres Geheimnis
der Praxis - Mandelentzündungen, Krampfadern, Hämorrhoiden. Statt nach Ruhm und Erfolg zu greifen, griff er nach Stethoskop und Reflexhammer. Brillanz und hochfliegende Träume gingen unter in bequemer Routine.
Er hatte diese Träume vergessen gehabt - bis jetzt.
Er sah zu dem Gemälde Rembrandts hinauf. Dr. Tulp war unsterblich geworden. Geradeso wie Vesalius, William Harvey, Joseph Lister, Robert Koch, Walter Reed. Wer würde sich an Jonas Wade erinnern.? Er hatte beim Eintritt in den Ruhestand nicht einmal eine goldene Uhr zu erwarten.
Er ließ sich in seinen Sessel fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Jahrelang war er mit seinem Leben zufrieden gewesen. Dreißig Stunden die Woche in der Praxis, zehn im Operationssaal, vier auf dem Golfplatz, zwölf vor dem Fernsehapparat; sein Leben war eine Folge von Stunden, die verbracht werden mußten, herumgebracht, totgeschlagen werden mußten. Und was würde er am Ende dieser langen Kette von Stunden vorweisen können? Nichts. ln den neunzehn Jahren seit seiner Promotion hatte sich Jonas Wade nicht einmal die Zeit genommen, sein Leben zu hinterfragen; jetzt, wo er es tat, zog er es zugleich in Zweifel.
Dies war der Moment, die Chance zu Ruhm und Anerkennung: Der Mann, der zum erstenmal die spontane Parthenogenese beim Menschen beschrieb.
»Jonas?«
Er sah auf. Penny stand an der offenen Tür.
»Ich habe mit dir geredet. Hast du mich nicht gehört?«
»Nein. Entschuldige, ich war ganz in Gedanken.«
Sie kam herein. Auf dem Schreibtisch und dem Sofa lagen Stapel von Fotokopien und handschriftlichen Aufzeichnungen. Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Wenn Jonas soweit war, daß er ihr von dem Fall erzählen wollte, der ihn seit Wochen so tief beschäftigte, würde er es von selbst tun.
»Du mußt mit Cortney sprechen, Jonas. Sie hat mir eben eröffnet, daß sie ausziehen und sich eine eigene Wohnung nehmen will.«
»Was?«
»Ja, sie möchte mit Sarah Long zusammenziehen.«
»Und wie will sie das bezahlen?«
»Sie sagte, sie würde sich einen Job suchen.«
Jonas schüttelte den Kopf. »Erst wenn sie mit der Schule fertig ist.«
»Sie ist fest entschlossen, Jonas.«
»Was paßt ihr denn hier nicht?«
»Ich weiß es nicht.« Penny breitete hilflos die Hände aus. »Ich habe versucht, vernünftig mit ihr zu reden, aber ich dringe nicht durch.«
»Okay, ich werde mich mal mit der Dame unterhalten.« Penny zögerte einen Moment, dann drehte sie sich um und eilte aus dem Zimmer.
Jonas sah wieder auf die Papiere, aus denen sein sensationeller Bericht entstehen sollte.
Eine Ausrede, ein Vorwand, um mein Gewissen zu schonen. Es ist nicht recht, Mary um meines eigenen Ruhmes willen all dem Wirbel und all den Widerwärtigkeiten auszusetzen, die auf meinen Bericht folgen würden. Man würde sie ausbeuten, die gesamte Sensationspresse würde über sie herfallen und sie und ihr Kind nicht mehr in Ruhe lassen. Habe ich das Recht, das in Kauf zu nehmen?
Und weiter: Welche möglicherweise weitreichenden Auswirkungen könnte diese Theorie über die Parthenogenese zeigen? Wenn ich die Ursache der Schwangerschaft und ihrer Entstehung im Detail beschreibe, wird dann nicht vielleicht irgendein Wissenschaftler zugreifen, sich menschliche Versuchskaninchen suchen und alles daransetzen, um die bei Mary gegebenen Umstände künstlich herzustellen? Wie viele Frauen gibt es, die sich verzweifelt ein Kind wünschen; ein Kind, das in ihrem eigenen Leib gewachsen ist; die aber keinen Ehemann haben; deren Mutterinstinkt so stark ausgeprägt ist, daß er ihnen zur fixen Idee wird, und die dennoch zu intimen Beziehungen mit einem Mann nicht fähig sind? Sie würden sich dafür hergeben, o ja, mit Freuden. Sie würden das Wade-McFarland-Verfahren an sich ausprobieren lassen, nur um schwanger zu werden.
Jonas schauderte innerlich.
Wenn man diesen Gedanken bis zu seiner letzten Konsequenz weiterführte, gelangte man zu einem radikalen gesellschaftlichen Umsturz. Was würde aus den sexuellen Sitten und Ritualen der Menschen werden, wenn Frauen sich durch Jungfernzeugung fortpflanzen konnten? Was würde aus den Männern werden?
Ich würde die Tür zu einer Welt ohne Männer öffnen, dachte Jonas. Aber ist das nicht genau das, was Dorothy Henderson tut? Nein, ihr Verfahren schließt die männlichen Geschöpfe nicht aus; jedes der beiden Geschlechter kann dupliziert werden. Bei der Parthenogenese hingegen spielt der Mann keine Rolle; er ist obsolet.
Wem gilt meine
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