Bitteres Rot
seufzte tief.
»Das klingt nach einem unmöglichen Unterfangen. Ich kann Ihren Auftrag nur ablehnen.«
»Warum?«
»Wissen Sie überhaupt, was Sie da von mir verlangen? Es gibt eine einzige Informationsquelle: Überlebende von damals. Der jüngste von ihnen dürfte um die neunzig sein.«
Er schien verärgert. »Sie sind doch ein gebildeter Mann und sollten eigentlich wissen,
Herr
Pagano, dass die Männer im Widerstand sehr jung waren, viele noch unter zwanzig. Und fünfundachtzig ist heute doch kein Alter, wenn man gesund ist.«
Er hatte recht. Auch mein Vater, Jahrgang 1925, war im Widerstand gewesen. Doch er war früh gestorben, der Krieg, die Fabrik und der Tod meiner Mutter hatten ihn aufgerieben. Wahrscheinlich hatte auch ich meinen Teil dazu beigetragen. Wenn man mich nicht ins Gefängnis gesteckt hätte, wäre Guido Pagano heute vielleicht noch am Leben.
»Es tut mir leid, Professor Hessen, Ihr Auftrag kommt |24| im falschen Moment. Suchen Sie sich einen anderen.« Meine Augen brannten vor Müdigkeit.
»Niemand verlangt von Ihnen, dass Sie sofort mit den Ermittlungen beginnen.« Er blieb hartnäckig.
»Läuft Ihnen nicht die Zeit weg?«
Er reagierte nicht und starrte auf den Filzhut in seinen Händen. Hatte ich ihn provoziert? Es vergingen zähe Minuten, in denen jeder seinen Gedanken nachhing. Ich hoffte, meine harschen Worte hätten Distanz zwischen uns geschaffen, groß genug, dass er endlich aufgab. Doch plötzlich brach er das Schweigen: »Ich habe keine Familie und bin Alleinerbe eines stattlichen Vermögens: Kapital, Aktien, Immobilien im Wert von insgesamt drei Millionen Euro. Wenn ich meinen Bruder finde, hat er für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Und auf Sie wartet ein mehr als großzügiger Scheck.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Sie wollen wissen, warum ich gerade zu Ihnen gekommen bin?«
Mir blieb nicht einmal Zeit zu nicken.
»Eine berechtigte Frage,
Signor
Pagano. Ich habe wenig Erfahrung mit privaten Ermittlern. Deshalb habe ich mich informiert und herausgefunden, dass die hiesigen Detektive meist ehemalige Polizisten oder Kripobeamte sind. Das würde in den Kreisen, in denen ich meinen Bruder vermute, von Anfang an für Misstrauen sorgen. Bei Ihnen ist das anders, Sie gehören dazu. Sie haben das Vertrauen dieser Leute. Ich bin sicher, dass Sie irgendjemanden kennen, der Kontakt zu meinem Bruder hat.«
»Täusche ich mich oder wissen Sie mehr, als Sie zugeben?«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Mein Vater hat bei Fossati in Sestri Ponente gearbeitet. Er war aktiver Widerstandskämpfer und wurde 1945 bei |25| einer Schießerei mit den Deutschen verletzt. Wussten Sie das?«
»Mit Sicherheit nicht.«
»Meine Mutter ist in Sestri geboren und aufgewachsen. Sie arbeitete in der Tabakfabrik und ihr Vater Baciccia war Arbeiter bei Ceramica Vaccari in Borzoli. Das wussten Sie auch nicht?«
»Nein, dass Sie so stark in Sestri verwurzelt sind, war mir nicht bekannt. Ihren Namen kenne ich aus der Zeitung. Meines Wissens sind Sie eine Ratte aus den Carruggi …«
»Das stimmt. Ich bin tatsächlich eine Carruggi-Ratte – ich bin in den engen Gassen der Genueser Altstadt groß geworden. Die Familie meines Vaters lebte seit Generationen in Madre di Dio. Dieses Viertel existiert heute nicht mehr, man hat die Häuser in den Siebzigerjahren abgerissen. Stattdessen wurden dort Wohnsilos hochgezogen, geplant von gewissenlosen Architekten, gebaut von geldgierigen Spekulanten. Dort bin ich geboren, in einem Mehrfamilienhaus in der Via Servi, an das ich mich kaum noch erinnern kann. Aufgewachsen bin ich zwischen der Piazza di Sarzano, der Via di Ravecca und der Via di San Bernardo. Wenn Sie sich eine Vorstellung von der Gegend machen wollen, sehen Sie sich den Film ›Die Mauern von Malapaga‹ mit Jean Gabin an. Die Fabriken aber lagen außerhalb des Stadtkerns, im Polcevera-Tal und im Westen der Stadt. Dort schlug auch das Herz des Widerstands, genauer gesagt in Sestri. Mehr als fünfzig Jahre lang war Sestri die Arbeiterhochburg Genuas.«
»Sehr gut, das vereinfacht die Sache natürlich.«
»Ganz und gar nicht. Mit meiner Vergangenheit habe ich so meine Schwierigkeiten, und wenn ich schon darin herumwühlen muss, dann bestimmt nicht wegen einem Job.«
»Auch nicht für diese Summe?« Er zog einen Scheck aus |26| der Tasche und hielt ihn mir unter die Nase. Ich erkannte eine Zahl mit vier Nullen. »Natürlich nur ein Vorschuss«, fügte er hinzu.
In diesem Augenblick öffnete
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