Bitteres Rot
wartete auf seinen zweiten Biancoamaro.
»Sag du es mir.«
»Du glaubst doch wohl nicht …«
Der Satz blieb unvollendet in der verräucherten Luft der Bar hängen. Olindo hatte verstanden und nahm ihre Hand.
»Dass du uns verraten hast? Sei unbesorgt, das glaubt niemand.«
»Also?«
»Du hast mir nicht geantwortet, Tilde.«
»Ich glaube, der Hauptmann mochte mich.«
»Das glaube ich auch.«
Unterdessen kam Olindos zweiter Biancoamaro. Die beiden Männer sprachen kurz miteinander, Tildes Anwesenheit |33| wurde einfach ignoriert. Die beiden kannten sich offensichtlich gut. Den Barkeeper schien die schwarzhaarige Frau mit den dunklen Augen neben Olindo nicht zu interessieren. Eine herbe Schönheit, ein bisschen widerborstig. Na und? Ihn ging das alles nichts an. Auch Tilde ignorierte ihn und starrte auf die rötliche Flüssigkeit in ihrem Glas.
Als sie wieder allein am Tisch waren, begann Olindo auf sie einzureden. Beschwörende Worte, die er immer parat hatte, wie den geladenen Revolver in der Manteltasche. »Im Augenblick ist Maestri zu gut geschützt, keine Chance ihn zu schnappen und zum Reden zu bringen. Seine Informantin ist gefährlich, sie könnte alles kaputt machen, verstehst du?«
Ihre schlimmsten Ahnungen schienen sich zu bewahrheiten.
»Was soll ich tun?«
»Im Moment gar nichts. Wir werden dafür sorgen, dass sie dich nicht noch mal erwischen.«
»Hat dir Biscia erzählt, was im Auto …«
Der Mann nickte und lächelte sie wissend an. Dem Verlobten zu beichten, dass Strappaunghie ihr die Hand zwischen die Beine gesteckt hatte, war einfacher als …
»Geh zur Arbeit und fahr zu deiner Tante, bevor die Ausgangssperre beginnt. Wir suchen uns eine andere Kurierin.« Dann wechselte er plötzlich das Thema.
»Weißt du eigentlich, dass Biscia wie ein Sohn für mich ist?«
Jetzt war sie es, die schweigend abwartete. Früher oder später würde Olindo die Karten auf den Tisch legen.
»Habt ihr euch schon entschieden, wann ihr heiraten werdet?« Er wandte den Blick ab und fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand des Glases.
»Nein, wir warten, bis der Krieg vorbei ist.«
|34| Er nickte zustimmend und trank einen Schluck. Seine schon sprichwörtliche Offenheit schien sich im Biancoamaro aufgelöst zu haben.
»Ich verlange viel von dir, ich weiß.«
»Du hast doch noch gar nichts verlangt, Olindo.«
Ihre trockene Antwort machte ihm Mut und er fuhr fort: »Dieser Hauptmann ist der Einzige, der die Verräterin entlarven kann …«
»… und ich bin die Einzige, die ihn dazu bewegen kann. Willst du, dass ich es tue?«
Olindo schüttelte den Kopf. Er wirkte verkrampft, als ob er Bauchschmerzen hätte. »Ich muss das erst mit der Kommandoebene klären. Morgen treffe ich Buranello.«
»Und ich muss mit Biscia reden.«
»Nur wenn du wirklich willst … Vergiss nicht, was das für Folgen hat.« Er griff fürsorglich nach ihrer Hand.
»Ich rede mit ihm und entscheide mich dann.«
Sie machte sich los, nippte an ihrem Biancoamaro und erhob sich. Erst draußen auf dem Bürgersteig, inmitten der mit gesenktem Blick an ihr vorüberhastenden Menschen, wurde ihr bewusst, dass sie das Gesicht des Barkeepers schon wieder vergessen hatte.
|35| Nur einer kann gewinnen
Die Wohnung lag in der Via Ottava Società in Borzoli. Es war zehn Uhr morgens, als ich mit der Vespa in die sonnenüberflutete Straße einbog, die ihren Namen der Gesellschaft verdankte, die hier Anfang des 20. Jahrhunderts Häuser gebaut hatte. Seit Jahren war ich nicht mehr hier gewesen. Die schmalen Balkone mit den schmiedeeisernen Geländern weckten lange verborgene Erinnerungen. Ich dachte mit Wehmut an meine Kindheit und sah meine Großmutter vor mir, wie sie mir von einem der Balkone im vierten Stock zuwinkte. Jedes Mal hatte ich die Angst meiner Mutter gespürt, es könnte das letzte Mal sein. Beim Loslaufen sah ich nach oben, meine kleine Hand winkte zurück, die andere ruhte fest in der Hand meiner Mutter. Wir überquerten den Torrente Chiaravagna. Auf dem schwankenden Holzsteg, der regelmäßig vom Hochwasser weggerissen wurde, sahen wir nach unten: ein schmutzig braunes Rinnsal. Danach gingen wir die Treppen zur Via Ramiro Ginocchio hinunter, um mit dem Bus nach Hause zu fahren.
Leider bewahrheitete sich die Befürchtung meiner Mutter allzu schnell, meine Großmutter starb und ließ meinen Großvater Baciccia allein zurück. Er entschied sich, zu uns in die Via dei Servi zu ziehen, um den ganzen Tag für
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