Bittersüße Heimat.
war es nicht, was sie zurücktrieb. Entweder mussten sie, wie meine Schwester, die nach Anatolien verheiratet wurde, oder sie wollten es, wie meine Brüder, die sich bessere berufliche Chancen erhofften.
Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen: Die ersten Jahre in Deutschland waren viel zu aufregend, boten zu viel Neues, als dass wir Kinder die Türkei oder die »Heimat« vermisst hätten. Wir waren Teil dieser Gesellschaft und nahmen an allem teil, was sie uns bot. Wir gingen ins Kino, ich spielte im Weihnachtsmärchen des Stadttheaters mit, bis meinem Vater diese Freiheit zu weit ging und er seinen drei Frauen verbot, weiter Kontakt mit den Deutschen zu haben. Ich durfte mit den Klassenkameradinnen nicht mehr gemeinsam Schularbeiten machen, ich durfte nicht mehr schwimmen, ich durfte nur noch an dem teilnehmen, was im Familienkreis stattfand. Meine Mutter traf Verwandte, Vater spielte mit seinen türkischen Bekannten Karten, und aus Weihnachten wurde wieder Ramadan. Von diesem Zeitpunkt an lebten wir getrennt von den deutschen Nachbarn. Nur zu Frau Zizske von nebenan ging ich manchmal. Sie brachte mir bei, gedeckten Apfelkuchen zu backen. »Unsere Eltern auf der einen und die meisten Deutschen auf der anderen Seite haben es uns nicht leicht gemacht, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Wir mussten und müssen uns aber unbedingt von beiden Seiten emanzipieren«, beschreibt Seyran Ates treffend die Situation. 1
› Hinweis
Unsere kleine Welt wurde eine kleine Türkei. Uns türkische Mädchen überwachte »Big Brother«, die Volkspolizei aus Brüdern, Cousins, Onkeln und Vätern. Wie und wo wir uns bewegten, waswir taten – jede noch so kleine Abweichung vom Vorgeschriebenen wurde flugs in der Gerüchteküche registriert und dem »Volksgericht« der türkischen Verwandten und Bekannten signalisiert. Meine Cousine traf die Höchststrafe für unsittliches Verhalten: Nach einem heimlichen Besuch in einer Discothek, bei dem sie von einem Bekannten ihres Vaters beobachtet wurde, schaffte man sie in die Türkei und verheiratete sie dort.
Uns anderen Mädchen blieb das Leben in der Kälte des Nordens, der uns fortan wie der ewige Winter und die endlose Dunkelheit vorkam. Der einzige Lichtblick waren vier Wochen Ferien im Sommer bei den Verwandten. Ich flüchtete mich in meine Fantasiewelt, ins Bett, zu meinen Büchern und zu meinen Erinnerungen an Istanbul, wo mir die Sonne den Rücken gewärmt, wo immer etwas Schönes auf mich gewartet hatte – ein Eis an der Fähre über den Bosporus, eine kalte Limonade in den Pinienwäldern von Camlica. Oder eben Ismet Bey, der freundliche Kapitän.
Vielleicht ist Heimat sila , die Sehnsucht nach dem Verlorenen, wenn man in der Fremde ist.
Bei meinen Besuchen in der Türkei habe ich nach dieser Nähe, nach Vertrautem gesucht. Es waren »sentimentale Reisen«, die auf das hofften, was es nicht mehr gab. Gleich der erste Versuch schlug fehl. Vor zehn Jahren bin ich mit meinen beiden Brüdern und meiner Schwester nach Kadiköy in Istanbul gefahren, in die kleine Hürriyet Caddesi , die Straße der Freiheit. Wir wollten das Haus unserer Kindheit suchen, ein altes Holzhaus im osmanischen Stil, das am Anfang einer Straße lag, die sanft einen Hügel hinaufführte. Das Haus war abgerissen worden, das Grundstück diente als Parkplatz. Nur ein Rest himmelblauer Farbe an der Brandmauer zum Nachbarhaus erinnerte noch an unser Kinderzimmer. Wer geht, hat den Ort, der einmal Heimat war, für immer verloren.
Bevor ich mich wirklich mit dem Land meiner Herkunft auseinandersetzen konnte, musste ich klären, wohin ich gehöre. Bin ich nun Türkin mit einem deutschen Pass oder eine »türkischstämmige« Deutsche? Schreibe ich in diesem Buch als Türkin über die eigenen Landsleute? Oder als Deutsche? Und woher nehme ich das Recht, als eine, die gegangen ist, über die Türkei zu sprechen?
Aus dem Verlust von dem, was einst Heimat war, kann auch Gewinn werden. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich das erkannte. Denn dafür musste ich eine Menge lernen. Ich habe, als ich hierher kam, Menschen angetroffen, die eine andere Vorstellung vom Leben, von Beziehungen, Politik und Freiheit hatten als meine türkischen Eltern und Verwandten. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich verstanden habe, was Distanz oder Zurückhaltung meinen deutschen Freunden bedeutete: dass Respekt kein Gehorsam, sondern Achtung vor dem anderen ist, dass Zurückhaltung keine Kälte, sondern Höflichkeit ist. Ich musste mich
Weitere Kostenlose Bücher