Bittersüße Heimat.
Wenn meine Tochter als Einzige in der Schule kein Kopftuch trägt, werden zwanzig andere Mädchen sie unter Druck setzen.« 3
› Hinweis
Zülfü Livaneli, dem Komponisten, Filmemacher und Autor, der fast im Alleingang mithilfe seines Freundes Mikis Theodorakis und seiner Musik die Versöhnung der Türken und Griechen auf den Weg brachte und trotz Verfolgung nicht müde wird, die Türken an ihre Verantwortung für die vergangenen Verbrechen zu erinnern und für heute Verantwortung zu übernehmen.
Türkan Saylan, die sich als Erste um die Lage der Menschen in der Psychiatrie in der Türkei kümmerte und immer wieder den Widerstand der Frauen gegen die Islamisierung organisiert.
Duygu Asena, der 2006 verstorbenen Frauenrechtlerin und Autorin, die mit ihren Büchern vielen Frauen Mut machte, sich gegen die Herrschaft der Männer zur Wehr zu setzen.
Berlin, im Juli 2008
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Tod in Ankara
Wir haben bestimmt, dass der Tod unter euch sein soll.
Koran, Sure 56, Die hereinbrechende Katastrophe, Vers 60
Wie oft habe ich von Deutschland aus meinen Onkel Enischte in An kara angerufen . Ich liebte ihn sehr , uns verband vieles – nicht nur die Erinnerungen an Pinarbashe , wo er aufgewachsen war und ich einige Zeit meiner Kindheit verbracht hatte . Er hatte mich au f dem Weg , den ich gegangen bin , immer ermutigt , auch wenn er kaum mit allem , was ich dachte , was ich tat , einverstanden gewesen sein konnte .
In der letzten Zeit fürchtete ich , er würde meine Stimme am Tele fon vielleicht gar nicht mehr erkennen . Denn in seinen Körper hatte sich der Krebs gefressen , sein Geist allerdings war frisch wie ehedem . Immer freute er sich , wenn ich anrief: »Hallo , mein Enischte , ich bin es , Necla!« , schrie ich dann ins Telefon , als könnte er mich so besser verstehen. »Oh, meine Necla, wie schön, dich zu hören!«, antwortete er jedes Mal . Aber als an einem Aprilnachmittag nicht er , sondern sein Sohn den Hörer abnahm , erfasste mich Panik . »Vater wird von uns gehen« , ließ er mich wissen .
Mein Onkel , wenige Jahre nach Gründung der Türkei geboren , war ein Kind der Republik , ein überzeugter Kemalist . Als Erdogan 2003 Ministerpräsident wurde , fuhr mein Onkel mit einem Strauß Blumen zum Anit Kabir , dem Mausoleum Atatürks , und legte sie am Sarg des Vaters aller Türken nieder , um sich bei ihm für das »dumme Volk« zu entschuldigen . Er misstraute der AKP , der Partei Erdogans , die in seinen Augen die Republik islamisieren wollte , hoffte aber , wie viele seiner Freunde , dass das Militär als treuer Bündnispartner der Kemalisten sie rechtzeitig »in die Schranken weisen« würde . Er mochte nicht wahrhaben , dass das Volk den kemalistischen Vertretern der alten Republik nicht mehr traute .
Wenige Tage vor dem 23 . April , dem Gedenktag der Großen Na tionalversammlung der Türkei , fuhren wir den Sarg meines Onkels durch Ankara . Überall wehte die rote türkische Fahne , an Häusern und Plätzen waren Bilder Atatürks befestigt – es war , als habe sich die Republik noch einmal für meinen Onkel geschmückt . Aber als wir seinen Sarg im Beisein vieler Verwandter , Nachbarn und Freunde in einem feierlichen Ritual au f einen Steinsockel der Arslanhane-Mo schee stellten , konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren , dass mit ihm die türkische Republik begraben wurde .
Das letzte Mal vor Ausbruch seiner Krankheit habe ich Enischte gesehen, als wir gemeinsam mit meinen Geschwistern in Istanbul, in »unserem« Stadtteil Kadiköy, an einer üppigen Tafel mit alten osmanischen Gerichten in meinem Lieblingsrestaurant »Haci Ali II« saßen. Ich hatte dazu eingeladen, denn ein gutes Essen in großer Runde gehörte zu den Leidenschaften meines Onkels. Alles, was das Lokal an Köstlichkeiten zu bieten hatte, wurde aufgefahren – meze , die unendlichen Variationen von Vorspeisen, icli köfte , kegelförmige, im Weizenschrotmantel gebackene Hackfleisch-Pistazien-Walnuss-Klöße, dann schisch kebab , ein Grillspieß aus mariniertem Lammfleisch, Tomaten und Paprika, ayva tatlisi , gekochte Quitten mit fester Sahne, und schließlich lokma , eine Süßspeise mit dem bezeichnenden Namen »Frauennabel«. Stolz saß ich zwischen meinen Geschwistern und Verwandten. Ein altes Istanbuler Lied wurde angestimmt: » Gel güzelim camlicaya bu gece , komm, meine Schöne, heute Nacht nach Camlica …«
Enischte erwies sich auch an diesem Abend als Charismatiker, der einen ganzen Saal unterhalten konnte und
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