Bittersüße Heimat.
damit auseinandersetzen, wenn ich nicht »fremd« bleiben wollte. Dadurch lernte ich mich selbst besser kennen und überwand allmählich die Angst vor dem Alleinsein.
»Wie kann ich ein ›Ich‹ sein, ohne meine Eltern, mein Land zu verraten?«, fragte mich ein türkischer Jugendlicher bei einem Interview. Muslimische Gesellschaften begreifen sich als unauflösliche Gemeinschaften – jede und jeder ist Teil dieser Schicksalsgemeinschaft. Die entscheidende Frage, nicht nur für die Integration, sondern auch für die eigene Identität, lautet deshalb, ob der Einzelne es schafft, sich von dem verordneten »Wir« zu befreien, ein »Ich« mit einer eigenen Stimme zu werden und sich selbst zu entscheiden, für die Gemeinschaft, in der er lebt, Verantwortung zu übernehmen.
Der Weg zu einem Platz in dieser Gesellschaft führt nur über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Wer darauf wartet, dass die hiesige Gesellschaft für ihn ein neues Kleid bereithält, in das er nur hineinzuschlüpfen braucht, um zu einer anderen Identität zu kommen, der wird bitter enttäuscht werden. Man muss Distanz entwickeln, zu sich selbst, zu seinem Herkunftsland und zu seiner neuen Heimat. Nur dann wird man ein selbstbestimmtes Leben führen und neue Wurzeln schlagen können. Wer sich hingegen dem Fremden verschließt, vergibt eine große Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln – das gilt für beide Seiten, für die, die kommen, wie auch für die, die hier sind. Auch die aufnehmende Gesellschaft muss für Veränderungen offen sein.
Migranten, die bereit sind, sich auf eine solche Auseinandersetzung einzulassen, verfügen über ein doppeltes Kapital: Wir kennen die Kultur, aus der wir kommen, und lernen eine neue kennen. Aus der Differenz zwischen beiden kann Neues entstehen. Der Blick wird geschärft, man schaut kritischer auf manche gesellschaftlichen Vorkommnisse als diejenigen, die damit wie selbstverständlich aufgewachsen sind. Mir hat das ermöglicht, etwas zu sehen, was die hiesige Gesellschaft nicht sah oder nicht sehen wollte: die elende Situation der »Importbräute«, die ich in meinem Buch »Die fremde Braut« beschrieben habe; oder »Die verlorenen Söhne«, die gewalttätigen muslimischen jungen Männer, die sich – zerrissen zwischen den Imperativen ihrer Herkunftskultur und den Anforderungen einer modernen Gesellschaft – so schwertun, hier zurechtzukommen.
Mit diesem durch Fremdheit geschärften Blick wende ich mich in diesem Buch meiner »bittersüßen Heimat« zu, aus der die fremden Bräute, die verlorenen Söhne kommen – und auch ich selbst. Das widersprüchliche Attribut »bittersüß« scheint mir passend für die Beschreibung meines Verhältnisses zu dem Land meiner Herkunft: Es gibt so vieles in der Türkei, das mir nach wie vor so unendlich vertraut ist – die Gedichte von Orhan Veli, die Romane von Halide Edit und Orhan Pamuk, die Geselligkeit, die süße Verlockung der Speisen, die sehnsuchtsvollen Lieder Istanbuls, das Glitzern des Bosporus. Und daneben gibt es so vieles, das mich erbittert und zornig macht – dass Mädchen und Frauen in Diyarbakir, Malatya oder Gaziantep, die ihre Rechte nicht kennen und von der Politik alleingelassen werden; dass kleine christliche Gemeinden sich vor der Feindseligkeit ihrer muslimischen Umwelt hinter hohe Mauern zurückziehen müssen; die Bereitschaft, Verbrechen »im Namen der Ehre« zu begehen, gegen die die Frauenorganisation Ka-mer kämpft; die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber allem, was von einer Vergangenheit zeugt, die älter ist als die Herrschaft der Osmanen; die Tabuisierung der Vergangenheit, in der die Türken Armenier und Griechen verfolgt, vertrieben und ermordet haben.
Die türkische Industrie- und Handelskammer warb jüngst in deutschen Zeitungen mit dem Slogan »Es ist Zeit, die Klischees über die Türkei zu überdenken und sich ein realistisches Bild des Landes zu machen«. Ich bin dem gefolgt und habe mich aufgemacht nach Anatolien. Ich habe diese Reisen allein, aber auchzusammen mit meinem Lebenspartner Peter Mathews gemacht, weil es in bestimmten Gebieten der Türkei unmöglich ist, als Frau allein zu reisen.
Die Türkei, das sind nicht die geografischen und intellektuellen drei Prozent Europa des Landes, die sich in Istanbuls Szenen, in den Cafés von Cihangir oder Nisantasi als modern und weltoffen feiern und nicht wahrhaben wollen, dass auch die Stadt am Bosporus mehrheitlich längst von jenen »Leuten vom Dorf«
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