Bittersüße Heimat.
Wärme von ihr, und stolz zeigte er mir ein Foto, auf dem er als einziger Junge mit zwölf Mädchen zu sehen war, die zum Abschluss der Schule 1942 einen halay , einen traditionellen Rundtanz, aufführten. Auch das war neu, dass Jungen und Mädchen gemeinsam in einer Klasse saßen.
Eine weiterführende Schule gab es in und um Pinarbashe nicht. So blieb Enischte und zog gemeinsam mit seinem Vater durchdie umliegenden Dörfer, um Kurzwaren zu verkaufen. Als Zwölfjähriger hatte er seinen eigenen kleinen Laden gegenüber vom Geschäft seines Vaters. Aber seine Karriere als Kaufmann fand ein jähes Ende, als einer seiner ehemaligen Schulkameraden, der inzwischen in Istanbul aufs Gymnasium ging, in Pinarbashe auftauchte. Auf dem Kopf eine schwarze Baskenmütze, die zu seiner Schuluniform gehörte. Auf meinen Onkel muss sie eine magische Anziehungskraft ausgeübt haben: Eine solche Mütze wollte er auch tragen – der Wunsch, nach Istanbul aufs Gymnasium zu gehen, ließ ihn fortan nicht mehr los. Sein Vater hielt das für eine fixe Idee, Enischte aber ließ sich nicht davon abbringen. Als der Vater wieder einmal mit seinem Nähzeug über die Dörfer zog, packte Enischte seine Habseligkeiten in einen Grammophonkoffer – etwas anderes gab es nicht – und kletterte auf die Ladefläche eines Lastwagens, der Säcke mit Weizen nach Kayseri schaffte. Dort bestieg er den Zug, der zwei Tage bis nach Haydarpascha brauchte. Der Bahnhof auf der asiatischen Seite von Istanbul war der Ausgangspunkt der Bagdad-Bahn, des ersten großen Kooperationsprojekts der Deutschen mit dem Osmanischen Reich. Die Adresse seines Freundes hatte er sich auf der letzten Seite seines Ausweises notiert.
Direkt am Bahnhof legten damals auch die Fähren nach Eminönü und Karaköy an, der europäischen Seite Istanbuls. Die Fähre war voller fröhlicher Menschen, denn an diesem Tag war bayram , das Zuckerfest, und man besuchte Verwandte oder machte einen Ausflug. Ein gutgekleideter Herr mit Sonnenbrille sprach ihn an und fragte, wohin er denn wolle. Zu seinem Bruder, antwortete mein Onkel und zeigte die Adresse seines Freundes. Da wohne er auch, behauptete der Mann, und bot seine Begleitung an.
»In Eminönü bestiegen wir die Straßenbahn«, erzählte mir Enischte, »und als der Herr behauptete, hier müssten wir aussteigen, folgte ich ihm. Ich wäre ihn gern losgeworden, aber zu einem Älteren muss man höflich sein, und so ging ich gemeinsam mit ihm durch viele Gassen der mir völlig unbekannten Stadt. Als mir mein Koffer schon schwer wurde, hielten wir vor einem osmanischen Haus. Obwohl es nur zwei statt der von meinem Freund beschriebenen drei Stockwerke hatte, ging ich mit hinein.«
Im Haus tuschelte der Mann mit seiner Frau, längst war er Enischte unheimlich geworden. Die Familie, die er suche, sei nicht da, behauptete die Frau, die Frau sei im Hamam und der Mann zur Arbeit. Enischte glaubte das nicht, schließlich war bayram , an diesem Tag arbeitete niemand. Als die Kinder der beiden, neugierig geworden, die Treppe hinuntergelaufen kamen und mit der Mutter in einer fremden Sprache – vielleicht Griechisch, vielleicht Armenisch – sprachen, ahnte Enischte, dass er hier nichts mehr zu suchen hatte. Er schnappte seinen Koffer und stürmte aus dem Haus – so überstürzt, dass er auf der Straße der Länge nach hinfiel, direkt vor einen Pferdewagen, der frisches Brot geladen hatte. »Das riesige Pferd über mir, spürte ich die Hand des feinen Herrn im Nacken. Als ich laut zu schreien begann, ließ er mich erschrocken los, und ich lief zwischen den vielen Menschen, die auf der Straße waren, um mein Leben.«
Seine Intuition rettete meinem Onkel möglicherweise das Leben, zumindest aber die Freiheit. Das erfuhr er allerdings erst später. Im Ersten Weltkrieg waren die Christen, Griechen und Armenier, aus der Stadt vertrieben worden. Viele Kinder waren dabei zu Waisen geworden, manche waren in muslimischen Familien zwangstürkisiert oder zum Schutz aufgenommen, andere für die Feldarbeit verkauft worden. Die Christen, die der Vertreibung entgangen waren, rächten sich nun mit Gegenentführungen, und mein Onkel wäre fast eines ihrer Opfer geworden. Ein dreizehnjähriger Junge war eine Arbeitskraft, die dem »Besitzer« Geld einbrachte. Niemand hätte je wieder etwas von dem kleinen Jungen aus Pinarbashe gehört, wenn er als Straßenverkäufer, Arbeitssklave oder Teejunge verkauft worden wäre.
Stundenlang irrte er durch die Straßen, er wagte
Weitere Kostenlose Bücher