Bittersüße Heimat.
Maron in »Pawels Briefe« schreibt, aufgehört haben, mich von meinen Eltern und allem, was sie verkörperten, zu distanzieren, und bereit sein, das Leben meiner Mutter und meines Vaters einfach nur verstehen zu wollen. Vielleicht musste ich mich lange fernhalten von dem Land, aus dem ich gekommen bin, um auch für diesen Teil meines Lebens und meiner Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen. Jetzt bin ich so weit. Und ich versuche, beide Welten miteinander zu verbinden, die Vergangenheit in die Zukunft hinüberzuretten.
So fuhr ich Anfang 2008 schweren Herzens nach Kilicmehmet, in das Geburtsdorf meiner Mutter. Es liegt auf einem Hügel in der Nähe von Pinarbashe und ist wie viele der Dörfer Anatoliens von seinen Bewohnern verlassen. Nur ein paar alte Menschen und einige Ferien-Heimkehrer kümmern sich um die bescheidenen Häuser. Das Haus der Familie, in dem meine Mutter, ihre Schwestern und Brüder aufgewachsen sind, das sie selbst aufgebaut haben, steht dort, klein und verwahrlost, die Pflanzen des Gartens sind verdorrt, der Brunnen ist ausgetrocknet. Als ich im Winter vor dem Häuschen stand, schien es mir sagen zu wollen, schau mich an, ich bin nicht weggegangen wie ihr alle, ich bin geblieben, ich habe auf euch gewartet.
Es war ein trotziger Entschluss, den ich damals fasste: Ich werde dieses Haus wieder bewohnbar machen. Ich fühle mich verantwortlich für dieses Stück Erde. Und obwohl meine Verwandten mich für diesen Plan, an einem von allen verlassenen Ort ein Stück »Heimat« schaffen zu wollen, für verrückt erklärten, kamen doch auch bei ihnen gleich wieder die Erinnerungen. Die Schwestern erinnerten sich, wie sie auf der Bank gesessen, den spielenden Hunden zugeschaut und gemeinsam genäht hatten. Und mit den Erinnerungen kam der Wunsch, noch einmal dort zu sitzen. Ich werde sie dorthin bringen. Die jungen Frauen der Familie sind dabei. Wir werden meiner Familie ein Stück ihrer Geschichte zurückgeben und uns einen Ort. Oft gewinnen die Dinge erst als vergangene ihre Bedeutung für uns: Heimat ist auch dort, wo die Erinnerung ihren Platz hat. Und der ist fast überall, auch in Kilicmehmet, in Zentralanatolien.
Ich bin inzwischen Deutsche – nicht nur dem Pass nach. Ich identifiziere mich mit der demokratischen Verfassung dieser Gesellschaft, mit den Freiheiten, die sie mir und anderen ermöglicht. Aber ich habe nicht vergessen, woher ich komme. Viele Intellektuelle, Schriftsteller, Journalisten, Künstler und andere, die sich in den letzten Jahren für mehr Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, für die Freiheit des Wortes und für die Gleichberechtigung von Frauen eingesetzt haben, wurden diskreditiert, verfolgt, bekämpft und angeklagt und manchmal auch ermordet. Umso mehr bewundere ich diese Menschen, denn ich habe es leicht: Wenn ich das Land meiner Herkunft oder Deutschland kritisiere, schützt mich der Staat, in dem ich heute lebe; sie aber gehen ein hohes Risiko ein, wenn sie Verantwortung für ihr Land, für ihre Heimat übernehmen. Ihnen und allen, die mit ihnen sind, ist dieses Buch gewidmet:
Hrant Dink, dem armenischstämmigen Journalisten, der unermüdlich für die Versöhnung von Türken und Armeniern eintrat und von einem Jugendlichen ermordet wurde – offensichtlich im Auftrag nationalistischer Verschwörer.
Ece Temelkuran, der mutigen Journalistin, die den Finger auf die Wunde der türkischen Gesellschaft legt: »Müssen wir denn auf ewig in dem Zwiespalt gefangen bleiben, uns entweder einzuschließen in die Zugehörigkeit zu einem ›Wir‹ oder als ›Verräter‹ gebrandmarkt und ausgeschlossen zu werden?«
Bülent Ersoy, der transsexuellen Sängerin, die sich mit der Casting-Show »Popstar Alaturka« ein Millionenpublikum eroberte und die Show nutzte, um gegen den Einmarsch der türkischen Armee in den Nordirak zu protestieren: »Für diesen Krieg der anderen würde ich mein Kind nicht unter die Erde schicken.« Sie wurde für diese Äußerungen wegen »Entfremdung des Volkes vom Militärdienst« angeklagt. 2
› Hinweis
Sezen Aksu, der wohl beliebtesten Popsängerin der Türkei, die immer auf Seiten der Frauen steht und Bülent Ersoy sofort ihre Unterstützung anbot.
Fazil Say, dem Pianisten und Komponisten, der mit Beethoven und Prokofjew unermüdlich gegen die kulturelle Islamisierung kämpft – auch für seine siebenjährige Tochter, die zum Ballett geht: »Manche Mitglieder der AKP haben schon vor sechs Jahren gesagt, Ballett sei eine unmoralische Kunst …
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