Bittersuesser Verrat
1
Eve Rossers schriller Schrei drang durch das ganze Haus, hallte von jeder Wand wider und riss Claire wie eine Elektroschockwaffe, die ihr ans Rückgrat gehalten wurde, aus der angenehmen, schläfrigen Umarmung ihres Freundes.
»Oh, mein Gott, was ist passiert?« Halb sprang sie auf, halb fiel sie von der Couch. Tödliche Gefahr war keine Seltenheit in ihrem inoffiziellen Vier-Personen-Studentenhaushalt. Tatsächlich veranlasste tödliche Gefahr dieser Tage nicht einmal mehr zu einem Schrei aus voller Kehle. Höchstens zu einer hochgezogenen Augenbraue. »Eve? Was ist los?«
Der Schrei hielt an, begleitet von dumpfen Schlägen, die klangen, als würde Eve Kickboxen mit dem Boden üben.
»Verdammt«, sagte Shane Collins, während er sich ebenfalls aufrappelte. »Was zum Teufel ist los mit dem Mädchen? Gab es einen Ausverkauf im Morbid "R" Us und niemand hat ihr Bescheid gesagt?«
Claire schlug ihm auf den Arm, aber nur aus Reflex; sie war schon auf dem Weg in den Flur, wo das Geschrei am lautesten widerhallte. Sie hätte sich schneller bewegt, aber in dem Kreischen lag überhaupt keine Panik.
Sondern vielmehr... Freude?
Im Flur hatte ihre Mitbewohnerin Eve einen totalen Anfall – sie hüpfte wie ein verrückt gewordenes Goth-Häschen im Kreis und brüllte dabei. Durch ihr Outfit wirkte das noch merkwürdiger: ein hauchdünner schwarzer Rüschenrock, schwarze Strümpfe mit neonpinken Totenköpfen, ein kompliziert aussehendes Korsett mit Schnallen und ihre klobigen Doc Martens. Sie hatte ihr Haar heute zu Rattenschwänzen gebunden, die wild umherflogen, als sie mit dem Po wackelnd herumhüpfte und -wirbelte und einen Siegestanz vollführte.
Claire und Shane standen wortlos daneben und wechselten einen Blick. Shane hob schweigend die Hand und beschrieb mit dem Finger einen langsamen Kreis an seiner Schläfe.
Claire nickte mit großen Augen.
Das Kreischen wurde von aufgeregten kleinen Jaulern abgelöst und Eve hörte mit ihrer wilden Hüpferei auf. Stattdessen machte sie einen direkten Satz auf sie zu und wedelte so wild mit einem Stück Papier herum, dass Claire von Glück sagen konnte, dass sie überhaupt erkennen konnte, dass es Papier war.
»Weißt du«, sagte Shane mit einer viel zu ruhigen Stimme, »irgendwie vermisse ich das alte Morganville, als noch all diese Furcht einflößenden Monster hier herumgelaufen sind und man dauernd darauf achten musste, dem Tod zu entrinnen. Das hier wäre im alten Morganville niemals passiert. Es wäre einfach zu bescheuert.«
Claire prustete los, streckte die Hand aus und schnappte sich Eves wild herumwirbelndes Handgelenk. »Eve! Was ist das?«
Eve hörte auf herumzuhüpfen und packte Claires Hände, wobei sie das Papier zerknüllte. Dem nervösen Zucken ihrer Muskeln nach zu urteilen, wollte sie immer noch hüpfen, aber sie strengte sich an, still zu stehen. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber sie konnte einfach nicht. Es kam nur ein Piepsen heraus, das höchstens ein Delfin hätte interpretieren können.
Claire seufzte und nahm Eve das Papier aus der Hand, sie glättete es und las laut vor: »Liebe Eve«, begann sie. »Danke, dass du zum Vorsprechen für unsere Inszenierung von Endstation Sehnsucht gekommen bist. Wir freuen uns sehr, dir die Rolle von Blanche DuBois anbieten...«
Sie wurde durch weiteres Herumhüpfen und Kreischen unterbrochen. Auf diese Art besiegt las Claire den Rest leise und reichte das Blatt dann Shane.
»Wow!«, sagte er. »Das ist die Aufführung im Stadttheater, stimmt's? Die, die jährlich stattfindet?«
»Ich spreche schon seit Ewigkeiten vor«, platzte Eve heraus, ihre dunklen Augen waren so groß wie die einer Anime-Figur. »Ich meine wirklich Ewigkeiten! Seit ich zwölf war. Die beste Rolle, die ich bisher bekommen habe, war die einer russischen Tänzerin in der Weihnachtsvorführung von Der Nussknacker.
»Du?«, sagte Shane. »Du kannst tanzen?«
Eve sah gekränkt aus. »Du warst schon auf Partys mit mir. Du weißt doch genau, dass ich tanzen kann, du Blödmann.«
»Hey, es ist ein Unterschied, ob man auf einer Party mit dem Hintern wackelt oder ob man Ballett tanzt.«
Eve hob einen Finger mit schwarz lackiertem Fingernagel in seine Richtung. »Damit du es weißt, ich war gut in Spitzentanz, und außerdem tut das jetzt gar nichts zur Sache. Ich habe die Rolle der Blanche. In Endstation Sehnsucht. Weißt du überhaupt, wie absolut cool das ist?«
»Glückwunsch«, sagte Shane. Es klang tatsächlich, als würde er es auch
Weitere Kostenlose Bücher