Bitterzart
gegangen.«
Der Pool lag auf der West End Avenue, auf Höhe der neunziger Querstraßen. Früher, vor der ersten Wasserkrise, in deren Verlauf alle Schwimmbecken und Brunnen trockengelegt wurden, beherbergte er einen Schwimmverein für Frauen. Heute benutzte ihn die Familie (und damit meine ich die Semja , also das Verbrechersyndikat der Familie Balanchine) als Stützpunkt. Ich nehme an, sie hatten ihn billig bekommen.
»Leo!«, rief ich empört.
»Du hast versprochen, dass du nicht sauer wirst!«
»Aber du weißt doch, dass du nicht auf die West Side gehen sollst, ohne jemandem Bescheid zu sagen.«
»Ich weiß, ja. Aber Jacks meinte, dort wären viele Leute, die mich gerne sehen würden. Und dass es Verwandte wären, weshalb du nichts dagegen hättest.«
Ich war so zornig, dass ich kein Wort herausbekam. Die Makkaroni waren nun kalt genug zum Essen, so dass ich sie auf die Teller gab. »Wasch dir die Hände und sag Natty, das Essen ist fertig.«
»Sei bitte nicht sauer, Annie!«
»Ich bin nicht sauer auf dich «, sagte ich.
Gerade wollte ich Leo das Versprechen abnehmen, dass er nie wieder dorthin gehen würde, als er sagte: »Jacks meint, ich könnte vielleicht im Pool arbeiten. Im Familiengeschäft, weißt du?«
Ich konnte mich gerade noch zusammenreißen, um die Makkaroni nicht gegen die Wand zu werfen. Es half eh nichts, auf meinen Bruder wütend zu sein. Abgesehen davon kam es mir übertrieben vor, an einem Tag gleich zweimal mit Nudeln um mich zu schmeißen. »Warum solltest du das tun? Du arbeitest doch gerne in der Tierklinik.«
»Ja, aber Jacks meinte, es wäre gut, wenn ich für die Familie arbeiten würde« – er hielt inne –, »so wie Daddy.«
Ich nickte knapp. »Ich weiß nicht, Leo. Im Pool kann man keine Tiere streicheln. So, jetzt hol bitte Natty, ja?«
Ich schaute meinem Bruder nach, der die Küche verließ. Wenn man ihn so sah, glaubte man nicht, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Vielleicht nahmen wir seine Behinderung zu wichtig. Es war nicht zu bestreiten, dass Leo gut aussah, stark und letztendlich erwachsen war. Das machte mir natürlich am meisten Angst. Erwachsene konnten Ärger bekommen. Man konnte sie übervorteilen. Sie konnten nach Rikers Island geschickt werden, oder schlimmer noch: Sie konnten am Ende getötet werden.
Als ich Wasser in unsere Gläser laufen ließ, fragte ich mich, was dieser Abschaum von einem Halbcousin im Schilde führte und wie groß das Problem für mich werden würde.
II.
Ich werde bestraft, definiere Rückfälligkeit und kümmere mich um Familienangelegenheiten
Das Schlimmste am Küchendienst war der Kittel. Er sah aus wie ein rotes Zelt, in dem ich dick wirkte, und auf dem Rücken war mit Klettband ein Schild befestigt, auf dem stand: ANYA BALANCHINE MUSS LERNEN, SICH UNTER KONTROLLE ZU HABEN. Am Anfang konnte man das Schild unter meinen langen Haaren nicht sehen, dann wurde ich gezwungen, ein Haarnetz zu tragen. Ich protestierte nicht. Ohne Haarnetz wäre der ganze Aufzug unvollständig gewesen.
Während ich die Tabletts und Gläser meiner Klassenkameraden einsammelte, warf mir Scarlet immer wieder mitfühlende Blicke zu, die das Ganze fast noch schlimmer machten. Ich hätte meine Strafe lieber in einem völlig geistesabwesenden Zustand verrichtet.
Aus verständlichen Gründen sparte ich mir Gable Arsleys Tisch bis zum Schluss auf.
»Ich fasse es nicht, dass ich mit der da mal gegangen bin«, sagte er leise, doch laut genug, dass ich es hören konnte.
Obwohl mir verschiedene Antworten durch den Kopf gingen, lächelte ich und schwieg. Wenn man Küchendienst hatte, durfte man nicht sprechen.
Ich schob den Wagen mit den Tabletts in die Küche, dann ging ich wieder in die Cafeteria, um in den zwei verbleibenden Minuten mein eigenes Mittagessen zu vertilgen. Scarlet hatte sich umgesetzt und hockte jetzt bei Win. Sie beugte sich über den Tisch zu ihm vor und lachte über etwas, das er sagte. Arme Scarlet. Ihre Flirttechnik war nicht gerade von der unauffälligen Sorte, und ich hatte das Gefühl, dass es bei Win nicht gut funktionieren würde.
Ich wollte mich wirklich nicht zu ihnen gesellen. Ich roch nach Essen und Müll. Scarlet winkte mich zu sich. »Annie! Hier bin ich!«
Ich schlurfte hinüber.
»Super, das Haarnetz!«, sagte sie.
»Danke«, gab ich zurück. »Hab schon überlegt, ob ich es immer trage. Den Kittel auch.« Ich stellte mein Tablett ab und stützte die Hände in die Hüften. »Muss man aber wohl mit Gürtel anziehen.«
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