Bitterzart
jemand freiwillig seine Zeit im Park verbrachte. Für Natty und mich war es eine halbe Meile Brachfläche, die wir so schnell wie möglich zu durchqueren hatten, vorzugsweise vor Einbruch der Nacht, da der Park dann zum Anziehungspunkt zwielichtiger Gestalten wurde. Ganz genau kann ich nicht sagen, warum es mit dem Park so bergab gegangen war, aber ich nehme an, es verhielt sich wie mit allem anderen in dieser Stadt: Geldknappheit, Wassermangel, Führungsvakuum.
Natty war sauer auf mich, weil ich in Gegenwart von Win den Witz übers Babysitten gemacht hatte, und weigerte sich, neben mir zu gehen. Als wir die Große Wiese hinter uns ließen (die wohl irgendwann mal mit Gras bewachsen gewesen war), lief sie ungefähr fünfundzwanzig Meter vor mir.
Dann fünfzig.
Hundert.
»He, Natty!«, rief ich. »Das ist gefährlich! Du musst bei mir bleiben!«
»Hör auf, mich Natty zu nennen! Ich heiße Nataliya, und nur zu deiner Information, Anya Pavlova Balanchine, ich kann auf mich selbst aufpassen!«
Ich lief los, um sie einzuholen, doch mittlerweile war sie schon weit weg. Ich konnte sie kaum noch erkennen – ein winziger Punkt in einer Schuluniform. Ich legte einen Zahn zu.
Ich fand sie hinter dem gläsernen Anbau des riesigen Gebäudes, das früher ein Kunstmuseum war und jetzt ein Nachtclub. Sie war nicht allein.
Ein unglaublich magerer Junge, der Lumpen und – großer Zufall! – ein jahrzehntealtes T-Shirt der Schokoladenfabrik Balanchine trug, hielt meiner Schwester eine Pistole an den Kopf. »Jetzt die Schuhe«, sagte er mit quietschiger Stimme.
Schniefend bückte sich Natty, um ihre Schnürsenkel zu lösen.
Ich betrachtete den Jungen. Er war zwar abgemagert, aber wirkte robust, dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass ich es mit ihm aufnehmen konnte. Ich schaute mich um, überzeugte mich, dass er keine Komplizen hatte. Nein. Wir waren allein. Das eigentliche Problem war die Waffe, daher sah ich sie mir genauer an.
Was ich als Nächstes tat, mag sich waghalsig anhören.
Ich trat zwischen meine kleine Schwester und den Jungen.
»Anya! Nein!« , schrie Natty.
Man muss wissen, dass mein Vater mir das eine oder andere über Waffen beigebracht hatte, und in der Pistole dieses Jungen war kein Ladestreifen. Mit anderen Worten: Es waren keine Patronen drin, höchstens eine im Magazin, und auch darauf hätte ich nicht gewettet.
»Warum suchst du dir keinen aus, der so groß ist wie du?«, fragte ich den Jungen. Genau genommen war er fünf Zentimeter kleiner als Natty. Aus der Nähe sah ich, dass er jünger war, als ich gedacht hatte – vielleicht acht, neun Jahre alt.
»Ich erschieße dich«, sagte er. »Wirklich.«
»Ja?«, sagte ich. »Das möchte ich mal sehen.«
Ich umfasste den Lauf der Pistole. Zuerst überlegte ich, sie ins Gebüsch zu werfen, dann kam ich zu dem Schluss, der Knirps solle niemandem mehr damit Angst einjagen. Ich steckte sie in meine Tasche. Es war eine hübsche Waffe. Hätte gute Arbeit bei meiner Schwester und mir geleistet. Wenn sie denn geladen gewesen wäre.
»Komm, Natty. Hol dir deine Sachen zurück.«
»Ich hab ihm noch gar nichts gegeben«, sagte Natty. Sie war immer noch ein bisschen verstört.
Ich nickte. Dann reichte ich ihr mein Taschentuch und sagte, sie solle sich die Nase putzen.
Mittlerweile hatte auch der Möchtegerngangster zu weinen begonnen. »Gib mir meine Pistole zurück!« Er holte aus und schlug mich, aber er war wohl so schwach vor Hunger, dass ich kaum etwas spürte.
»Hör mal zu, tut mir leid, aber wenn du mit dieser kaputten Pistole herumfuchtelst, wirst du früher oder später umgebracht.« Das stimmte. Ich wäre nicht der einzige Mensch, dem auffallen würde, dass sie nicht geladen war, und höchstwahrscheinlich würde die Sorte Mensch, die so etwas bemerkte, dem Jungen einen Schuss zwischen die Augen setzen, ohne darüber nachzudenken. Ein wenig hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm die Waffe abnahm, deshalb gab ich ihm all mein Geld, das ich dabeihatte. Nicht viel, aber für eine Pizza am Abend sollte es reichen.
Ohne mit der Wimper zu zucken, nahm der Junge meine »Spende« an. Dann beschimpfte er mich mit einem obszönen Wort und verschwand im Park.
Natty gab mir ihre Hand, und wir liefen schweigend weiter, bis wir die relative Sicherheit der Fifth Avenue erreichten.
»Warum hast du das gemacht, Annie?«, flüsterte sie, als wir an der Ampel auf Grün warteten. Bei all dem Straßenlärm konnte ich sie kaum verstehen. »Warum hast
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