Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
Prolog
Der Schneefall hatte stark zugenommen, und dicke Flocken wehten durch die Dunkelheit. Das hatte sie jedoch noch nie abgehalten. Um diese Zeit gingen sie immer genau diesen Weg, die Grindelallee entlang und dann quer über das Gelände der Universität, weil sie so direkt zur großen Wiese gelangten und sich den Umweg an der Hauptstraße entlang sparten. Der Mann, die Frau und der Hund. Der Mann und die Frau trugen die gleiche Regenjacke, der Mann und der Hund den gleichen Schnauzer, die Frau und der Hund die gleiche lockige Frisur. Dem Hund hatten sie, farblich passend zu ihren Jacken, eine kleine Plastikdecke über den Rücken geschnallt. Gegen die Kälte. Wie immer gingen sie schweigend nebeneinanderher, während der Hund mit kleinen, schnellen Schritten vorauslief. Als sie, alle drei, an der Ampel ankamen und auf Grün warteten, standen sie still nebeneinander. Es wurde Grün, die Frau machte den ersten Schritt auf die Straße, auch der Hund tippelte los.
Plötzlich raste ein weißer Mercedes um die Ecke und sauste über den Fußgängerübergang. Die Frau sprang zurück und riss an der Leine. Der Hund quiekte, wirbelte durch die Luft, landete auf dem Asphalt, streckte seine kleine Zunge heraus und rang nach Luft.
Sie empörten sich noch eine ganze Weile. Doch da Frau und Hund zwar mit dem Schrecken aber ohne einen Kratzer davongekommen waren, hatten sie den Mercedes fast schon wieder vergessen, als sie den Campus mit dem flachen, sechseckigen Wasserbecken betraten, um weiter in Richtung der großen Wiese jenseits der Universität zu gehen. Sie ließen den Hund von der Leine und folgten ihm langsam durch den immer höher werdenden Schnee. Er dachte daran, wie gern er jetzt zu Hause ein Buch lesen würde, anstatt mit diesem Hund und dieser Frau durch den Schnee zu stapfen. Sie dachte daran, wie sie sich damals, vor langer Zeit, im Sommerregen zum ersten Mal geküsst hatten. Nicht weit von hier. Von den Haaren, die ihm damals nass ins Gesicht hingen, waren nicht mehr viele übrig.
Der Hund bellte. Durch das Schneegestöber konnten sie kaum erkennen, wo er war. Bedächtig bewegten sie sich durch die Dunkelheit in seine Richtung. Sie entdeckten den Hund am Rand des künstlich angelegten Wasserbeckens. Er hüpfte und drehte sich immer wieder um sich selbst und bellte. Die Frau beschleunigte ihren Schritt und ging nun zügiger auf ihn zu. Etwas schien nicht zu stimmen. Als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, erkannte sie, was den Hund so aufregte.
Sie war nie eine Person gewesen, die man leicht aus der Fassung hatte bringen können, und auch diesmal blieb sie ganz ruhig. Sie drehte sich langsam zu ihrem Mann um.
»Bärchen, du solltest die Polizei rufen.«
Kapitel 1
Christoph Schönlieb zog seine schwarze Wollmütze etwas tiefer ins Gesicht und über die Ohren. Er rieb die Hände aneinander, faltete sie wie zum Gebet und hauchte dann zweimal kräftig hinein. Mann, war das kalt! Er vergrub die Hände tief in den Taschen seines langen Wollmantels und schaute nach links auf die Anzeigentafel. Halb sechs. Noch eine halbe Stunde bis zum Anpfiff. Unten auf dem Rasen machten sich bereits die Spieler des FC St.Pauli warm. Gerade waren sie dabei, abwechselnd auf das Tor zu schießen. Wenn man ihre nur selten von Erfolg gekrönten Versuche als Maßstab für das kommende Spiel nahm, würde es heute schwierig werden mit einem Sieg. Schönlieb machte sich jedoch noch keine Sorgen, die Saison war bisher sehr gut verlaufen. Nachdem fast die Hälfte aller Spiele absolviert war, befand sich der Verein auf dem vierten Tabellenplatz, punktgleich mit dem Drittplatzierten. Der direkte Wiederaufstieg war durchaus realistisch. Schönlieb hätte dies der Mannschaft zu Beginn der Saison nicht zugetraut. Als St.Pauli das letzte Mal aus der ersten Liga abgestiegen war, waren sie direkt in die Regionalliga durchgereicht worden, und es hatte vier lange Jahre gedauert, bis sich die Mannschaft wieder hochgekämpft hatte. Diesmal schien es so, als würde es gleich wieder aufwärtsgehen. Doch der Verein hatte sich auch verändert – und mit ihm das Stadion. Von dem kleinen, maroden Stadion war nur mehr wenig zu erkennen. Alles war neu. Alles war anders. Jetzt erstreckten sich links und gegenüber von ihm zwei große Tribünen, in deren Mitte – wie so oft – selbst kurz vor dem Anpfiff niemand saß: der Bereich der sogenannten Business-Seats, in dem es, so hatte Schönlieb oft das Gefühl, den Leuten mehr darum ging,
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