Bitterzart
Inspiration, als Thema oder als Witz, damit auch alle fleißig lernten.
»Anya Balanchine«, sagte Mr. Beery. »Wie freundlich von Ihnen, uns zu beehren.«
»Entschuldigung, Mr. Beery. Ich hatte Küchendienst.«
»Auf diese Weise dient uns Ms. Balanchine als wandelndes Beispiel für die gesellschaftlichen Probleme von Verbrechen, Strafe und Rückfälligkeit. Wenn Sie mir sagen können, warum das so ist, werde ich Sie nicht wegen Zuspätkommens zurück zur Rektorin schicken.«
Ich hatte Mr. Beery erst seit wenigen Minuten, weshalb ich nicht genau wusste, ob er es ernst meinte.
»Ms. Balanchine, wir warten.«
Ich bemühte mich, bei der Antwort nicht zu grinsen. »Der Verbrecher wird für seine Verbrechen bestraft, aber die Bestrafung führt nur zu weiteren Verbrechen. Ich wurde für mein Verhalten bestraft, indem ich Küchendienst machen musste, aber der Küchendienst hat dafür gesorgt, dass ich zu spät komme.«
»Klingelingeling! Diese Frau hat einen Preis verdient!«, sagte Mr. Beery. »Sie dürfen jetzt Platz nehmen, Ms. Balanchine. Und kann mir jemand von den Damen und Herren verraten, was sich hinter dem Begriff ›Das noble Experiment‹ verbirgt?«
Alison Wheeler, eine hübsche Rothaarige, die wahrscheinlich die Klassenbeste werden würde, hob die Hand.
»In meinem Klassenzimmer muss man sich nicht melden, Ms. Wheeler. Ich ziehe es vor, frei mit Ihnen zu diskutieren.«
»Ähm, ja«, sagte Alison und senkte den Kopf. »›Das noble Experiment‹ ist eine andere Bezeichnung für die erste Prohibition, die von 1920 bis 1933 dauerte und Verkauf wie Verzehr von Alkohol in den Vereinigten Staaten untersagte.«
»Sehr gut, Ms. Wheeler. Gibt es Mutige, die einen Tipp abzugeben wagen, warum ich beschlossen habe, das Jahr mit dem ›noblen Experiment‹ zu beginnen?«
Ich versuchte zu ignorieren, dass ich von allen Klassenkameraden angestarrt wurde.
Schließlich versuchte es Chai Pinter, die Tratschtante: »Vielleicht deswegen, weil es heute mit Schokolade und Koffein genauso ist?«
»Klingelingeling! Ihr seid ja gar nicht so dumm, wie ihr ausseht«, verkündete Mr. Beery. Den Rest der Stunde dozierte er über die Prohibition. Dass die Anhänger der Abstinenzbewegung glaubten, ein Alkoholverbot würde wie durch Zauberhand alle Probleme der Gesellschaft lösen: Armut, Gewalt, Verbrechen und so weiter. Und dass die Bewegung erfolgreich war, zumindest kurzzeitig, weil sie sich mit anderen, einflussreicheren Strömungen verbündete, obwohl viele von ihnen überhaupt keine Meinung zum Alkoholkonsum hatten. Das Alkoholverbot war für sie lediglich Mittel zum Zweck gewesen.
Ich war zwar keine Expertin für das Schokoladenverbot, da es schon vor meiner Geburt in Kraft getreten war, aber es gab unübersehbare Parallelen. Daddy hatte mir immer gesagt, dass an Schokolade selbst nichts Schlechtes sei, sie sei einfach in einen Mahlstrom geraten, bei dem es um Nahrungsmittel, Drogen, Gesundheit und Geld ging. In unserem Land hatte es Schokolade nur deshalb getroffen, weil die Machthabenden irgendwas auswählen mussten und sie am ehesten ohne Schokolade leben konnten. Einmal sagte Daddy: »Jede Generation dreht das Rad weiter, Anya, und wo es stehen bleibt, da ist ›das Gute‹. Das Komische ist, niemandem ist bewusst, dass er das Rad dreht und dass es jedes Mal woanders stehen bleibt.«
Ich dachte immer noch über Daddy nach, als ich merkte, dass Mr. Beery mich angesprochen hatte. »Ms. Balanchine, möchten Sie die Gründe abwägen, warum ›Das noble Experiment‹ letztlich scheiterte?«
Ich kniff die Augen zusammen. »Warum fragen Sie das ausgerechnet mich?« Ich würde ihn zwingen, es auszusprechen.
»Nur weil ich längere Zeit nichts von Ihnen gehört habe«, log Mr. Beery.
»Weil die Leute halt gerne tranken«, sagte ich einfältig.
»Das stimmt, Ms. Balanchine. Aber ich möchte noch etwas mehr hören. Vielleicht etwas aus Ihrer persönlichen Erfahrung.«
So langsam verabscheute ich diesen Mann. »Weil jedes Verbot letztendlich das organisierte Verbrechen fördert. Die Menschen finden immer eine Möglichkeit, das zu bekommen, was sie haben wollen, und es wird immer Verbrecher geben, die es ihnen besorgen.«
Es klingelte. Ich war froh, den Raum verlassen zu können.
»Ms. Balanchine«, rief Mr. Beery mir zu. »Bleiben Sie bitte noch kurz. Ich habe Sorge, dass wir uns auf dem falschen Fuß erwischt haben.«
Ich hätte so tun können, als hätte ich ihn nicht gehört, tat es aber nicht. »Geht nicht. Ich
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