Black Dagger 08 - Vampirherz
Bevor ich dich kennengelernt habe, und wir ein Paar wurden, war er mein Freund.«
»Toller Freund. Wann hast du zum letzten Mal was von ihm gehört?«
»Das spielt keine Rolle. Er war ein guter Freund.«
»Du bist ja so eine sentimentale Seele.« Sie stapfte zur Treppe. »Ich gehe Sean stillen. Dein Essen steht im Kühlschrank. «
Als sie im oberen Stock ankam, warf sie dem Kruzifix an der Wand einen finsteren Blick zu. Dann wandte sie sich ab, ging in Seans Zimmer und setzte sich in den Schaukelstuhl neben seiner Wiege. Sie entblößte eine Brust, legte ihren Sohn daran, und er saugte sich sofort fest. Sein Händchen quetschte die Haut neben seinem Gesicht. Der kleine Körper war warm und mollig und gesund, die Wimpern lagen auf den rosigen Wangen.
Joyce holte ein paar Mal tief Luft.
Mist. Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie laut geworden war. Und weil sie das Kreuz des Heilands missachtet hatte. Sie sprach ein Ave Maria und versuchte sich zu entspannen, indem sie Seans perfekte kleine Zehen zählte.
Mein Gott – sollte ihm jemals etwas zustoßen, dann würde sie sterben. Ihr Herz würde buchstäblich nie mehr so schlagen wie vorher. Wie hatte ihre Mutter das ertragen? Wie hatte sie den Verlust eines Kindes überlebt?
Und Odell hatte sogar zwei Kinder verloren, wenn man es genau nahm. Zuerst Janie. Dann Butch. Es war ein Glück, dass die Frau sie nicht mehr alle beisammen hatte. Die Erlösung von ihren Erinnerungen musste ein Segen sein.
Joyce strich über Seans weiches, dunkles Haar. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter sich nie von Janie hatte verabschieden können. Die Leiche war zu zerstört gewesen, um sie für einen offenen Sarg zu präparieren. Eddie O’Neal als ihr Vater hatte sie identifiziert.
Ach, hätte doch nur Butch an jenem furchtbaren Nachmittag die Geistesgegenwart besessen, ins Haus zu laufen und einem Erwachsenen zu erzählen, dass Janie weggefahren war … vielleicht hätte man sie retten können. Eigentlich war es Janie untersagt gewesen, zu Jungs ins Auto zu steigen, und jeder kannte die Regeln. Butch kannte die Regeln. Hätte er nur …
Ach, was sollte das alles? Ihr Mann hatte recht. Die gesamte Familie hasste Butch. Kein Wunder, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte.
Seans Mund zuckte leicht und wurde dann schlaff, sein Händchen ließ ihre Brust los. Doch dann wurde er mit einem Ruck wieder wach und nuckelte weiter.
Apropos aus dem Staub machen … ihre Mutter würde sich auch von Butch nicht verabschieden können. Ihre lichten Momente waren inzwischen extrem kurz und selten. Selbst wenn Butch sich an diesem Sonntag in der Kirche blicken ließ, könnte es gut passieren, dass sie ihn nicht einmal erkannte.
Joyce hörte ihren Mann mit langsamen Schritten die Treppe hinaufkommen.
»Mike?«, rief sie.
Der Mann, den sie liebte und geheiratet hatte, tauchte im Türrahmen auf. Er wurde allmählich rundlich um die Mitte, und die Haare fielen ihm aus, obwohl er erst siebenunddreißig war. Doch als sie ihn jetzt anblickte, sah sie sein jüngeres Selbst durchscheinen: den lässigen Typen aus der Schule. Den Freund ihres älteren Bruders Butch. Den Spitzen-Footballspieler, in den sie jahrelang heimlich verknallt gewesen war.
»Ja?«, fragte er.
»Es tut mir leid, dass ich so sauer geworden bin.«
Er lächelte schwach. »Das alles ist ganz schön hart. Das verstehe ich.«
»Und du hast recht. Wahrscheinlich hätte man Butch wirklich einladen sollen. Ich wollte – ich wollte nur, dass der Tag der Taufe rein ist, verstehst du? Es ist Seans Start ins Leben, und ich möchte nicht, dass ein Schatten darauf fällt. Butch trägt einen Schatten mit sich herum, und alle anderen würden sich in seiner Nähe verkrampfen. Und wo Mutter so krank ist, will ich mich damit nicht befassen.«
»Hat er gesagt, dass er kommt?«
»Nein. Er …« Sie dachte an das Gespräch. Komisch, er hatte geklungen wie immer. Ihr Bruder hatte schon immer eine merkwürdige Stimme gehabt, so heiser und rau. Als wäre entweder seine Kehle deformiert, oder als ob es zu viel gäbe, was er nicht erzählte. »Er sagte, er freue sich für uns. Hat mir für den Anruf gedankt. Sagte, er hoffe, Mom und Dad gehe es gut.«
Ihr Mann betrachtete Sean, der wieder eingeschlummert war. »Butch weiß nicht, dass eure Mutter krank ist, oder?«
»Nein.« Anfangs, als Odell einfach nur vergesslich wurde, hatten Joyce und ihre Schwester beschlossen, es Butch erst zu erzählen, wenn sie Genaueres
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