Black Dagger 10 - Todesfluch
vernünftig. Die Frau schien freundlich zu sein.
»Ich bin hier, um die Jungfrau der Schrift zu sprechen.« Wobei er davon ausging, dass sie das bereits wusste.
»Bei aller geziemenden Achtung, Sire, sie empfängt heute nicht.«
»Empfängt mich nicht oder niemanden?«
»Keinen Besucher. Möchtet Ihr, dass ich eine Botschaft überbringe?«
»Ich komme morgen wieder.«
Die Auserwählte verneigte sich tief. »Bei aller geziemenden Achtung, Sire, ich glaube, dass sie auch morgen noch unpässlich sein wird.«
»Warum?«
»Ich frage nicht, warum.« In ihrer Stimme lag ein Hauch von Missbilligung. Als sollte er besser auch nicht fragen.
Tja, dumm gelaufen. Was genau wollte er ihr ausrichten?
»Sag ihr doch bitte, Vishous war hier, um zu sagen …«
Da ihm die Worte fehlten, musterte ihn die Auserwählte mit Mitgefühl im Blick. »Wenn ich so kühn sein darf, vielleicht sollte ich ihr mitteilen, dass ihr Sohn kam, um ihr für das großzügige Geschenk und für das Opfer, das sie für sein Glück brachte, zu danken.«
Sohn.
Nein, so weit konnte er nicht gehen. Selbst wenn Jane wieder bei ihm war – der Begriff wirkte einfach zu unaufrichtig. »Einfach nur Vishous. Sag ihr, Vishous war hier, um sich zu bedanken.«
Wieder verbeugte sich die Auserwählte, die Miene traurig. »Wie Ihr wünscht.«
Er sah der Frau nach, wie sie durch die kleine verzierte Tür verschwand.
Moment mal. Hatte sie Opfer gesagt? Was für ein Opfer?
Wieder sah er sich um, sein Blick blieb am Springbrunnen hängen. Urplötzlich kam ihm der Klang des Wassers seltsam vor. Als er zuletzt hier gewesen war …
Langsam wandte V den Kopf.
Der weiße Baum mit den weißen Blüten war leer. Alle Singvögel waren fort.
Das war es, was hier fehlte. Die Vögel der Jungfrau der Schrift waren nicht mehr da, die Zweige des Baums bar jeder Farbe, die reglose Luft ihres fröhlichen Zwitscherns beraubt.
In dieser Stille nahm er die Einsamkeit dieses Ortes plötzlich wahr, der hohle Klang des fallenden Wassers vervielfachte noch die Leere.
O mein Gott. Das also war ihr Opfer gewesen.
Sie hatte ihre Liebe für seine gegeben.
In ihren Privatgemächern wusste die Jungfrau der Schrift genau, wann V gegangen war. Sie konnte fühlen, wie seine Gestalt wieder in die Welt dort draußen reiste.
Die Auserwählte Amalya näherte sich leise. »Wenn es gestattet wäre, würde ich gern sprechen.«
»Das musst du nicht. Ich weiß, was er gesagt hat. Lass mich nun allein und kehre ins Heiligtum zurück.«
»Ja, Eure Hoheit.«
»Danke.«
Die Jungfrau der Schrift wartete, bis die Auser wählte sich zurückgezogen hatte, dann erst wandte sie sich um und betrachtete die weiße Fläche ihrer Gemächer. Sie dienten hauptsächlich dem Auf-und-ab-Schreiten. Da sie weder schlief noch aß, stellten Schlaf- und Esszimmer vor allem Platz zum Wandern dar. Alles war nun so still.
Rastlos schwebte sie von Raum zu Raum. Sie hatte ihren Sohn auf so mannigfaltige Weise im Stich gelassen, und so konnte sie ihm seine Verweigerung nicht zum Vorwurf machen. Dennoch war der Schmerz da.
Gesellte sich zu einem anderen.
Mit Schaudern wandte sie den Blick dem hinteren Teil ihrer Gemächer zu, dem Ort, an den sie niemals ging. Oder an dem sie zumindest seit zweihundert Jahren nicht gewesen war.
Sie hatte noch jemanden im Stich gelassen, so war es doch.
Schweren Herzens glitt sie durch den Raum und ließ die doppelten Schlösser aufschnappen. Mit einem Zischen brach das Siegel, ein feiner Dunst wehte aufgrund der veränderten Luftfeuchtigkeit heraus. War es wirklich so lange her?
Die Jungfrau der Schrift trat ein und betrachte die Gestalt im Schatten, die dort wie leblos über dem Fußboden hing.
Ihre Tochter. Vs zweieiige Zwillingsschwester. Payne.
Lange war die Jungfrau der Schrift der Ansicht gewesen, dass es besser und sicherer für ihre Tochter war, dergestalt zu ruhen. Doch nun hegte sie Zweifel. Die Entscheidungen, die sie für ihren Sohn zu treffen versucht hatte, hatten ein schlechtes Ende genommen. Vielleicht galt das auch für ihr anderes Kind.
Die Jungfrau der Schrift musterte das Gesicht ihrer Tochter. Payne war nicht wie andere Frauen, von Geburt an schon nicht. Sie besaß die Kriegerinstinkte ihres Vaters und den Drang zu kämpfen, und sie war es nicht zufriedener, mit den Auserwählten ihre Zeit zu vertrödeln, als es ein Löwe wäre, den man mit Mäusen in einen Käfig sperrte.
Vielleicht war es Zeit, ihre Tochter zu befreien, so wie sie ihren Sohn befreit
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