Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
Prolog
Guten Appetit allerseits
Schrill kreischend rennt Töchterchen Leonie aus dem Speisesaal auf uns zu – ein riesiges Brotmesser drohend über dem Kopf erhoben.
Von mir hat sie das nicht.
Ihr Gebrüll erinnert an das wilde Angriffsgeheul eines zu kurz geratenen Barbarenchefs in der finalen Schlacht um die Zivilisation. Das riesige Messer ergänzt dieses Bild hervorragend.
Die sonst so unerschütterliche Familie Fröhlich rückt in ihren Ledersesseln näher an die gekachelten Wände des Familienhotels, das Architektenpaar plant derweil neue Fluchtwege aus der Lobby.
»Ist nur eine Phase«, versuche ich, die Gäste zu beruhigen. Echte Eltern reden ja so.
Herr Béla, der Kellner, eilt hinter Leonie her und versucht, der Zweieinhalbjährigen den schwingenden Brotsäbel zu entreißen, ohne dabei verletzt zu werden. In meinem Journalistenhirn sehe ich bereits die Schlagzeile: »Massaker im Familienhotel – Täter werden immer jünger«. Oder: »Wie das Paradies zur Hölle wurde: Das Brotmesser-Baby greift an«.
Im Artikel dazu erklärt ein Experte neben einem Tortendiagramm, wie sich Leonie vor dem Büfett auf die Fußspitzen stellte, nach einer Scheibe Baguette tastete, aber stattdessen das Messer erwischte. Er fordert härtere Strafen für Verletzungen der Aufsichtspflicht und rückt die Angelegenheit in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Das wird Anne nachher wohl auch versuchen, wenn ich mich dafür rechtfertigen muss, dass ich ihre Tochter mal kurz aus den Augen verloren habe.
Leonie kommt näher, uns trennen jetzt nur noch wenige Meter. Anne lächelt so verzückt, wie das nur eine Mutter kann.
»Schau, wie gut da schon jemand läuft!«
Ob sie wohl dasselbe über mich sagen würde, wenn ich jetzt schnell rausrenne? Wahrscheinlich nicht. Als guter Journalist beschließe ich, im Brennpunkt der Gefahr auszuharren.
Direkt vor ihrer Mutter bleibt Leonie stehen und betrachtet das riesige Messer in ihrer Hand. Eine plötzliche Erkenntnis flackert in ihren großen blauen Augen auf. Traurig schüttelt sie den Kopf.
»Kein Brot, leider.«
Eine Mutter zieht instinktiv die Dinkelkekspackung aus der Handtasche, um dieses verzweifelte Kind vor dem Hungertod zu retten. Wie von selbst beginnen die Hände einer anderen Mama, einen Apfel zu schälen. Die Blicke der Gäste richten sich auf uns. Ginge es nach ihren Mienen, gehörten Anne und ich in die Rabeneltern-Folterkammer einer englischen Gouvernante oder der Obhut eines Pädagogen übergeben, der voll auf Elektroschocks setzt.
Als Herr Béla Anne und mich entdeckt, nutzt er die Chance, sich aus dem nicht vorhandenen Staub zu machen. Wahrscheinlich ist ihm eingefallen, dass es jetzt wirklich Zeit wird, eine neue Portion »Familienglück« anzurühren.
Leonie deutet mit der freien Hand auf die Klinge und nickt. »Messer!«
Anne geht in die Hocke – auf Augenhöhe. »Richtig, Schatz. Das ist ein Messer. Und Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht.«
Die Gäste um uns herum nicken zustimmend.
Totenstille.
Meine vorgebliche Ehefrau streckt langsam die Hand aus. Dabei sieht sie ihre Tochter besänftigend an – als wäre Leonie der Geiselnehmer, ich die Geisel und Anne die Kommissarin.
»Gibst du Mama bitte das Messer?«, schmeichelt sie mit ruhiger Mutterstimme.
»Nein!« Leonie schiebt die Unterlippe vor und schaut trotzig nach unten, als überlegte sie, mit wem sie als Erstes »Täter und Opfer« spielen soll.
Dann hebt sie den Kopf und sieht von einem potenziellen Kandidaten zum nächsten. Ich weiche Leonies Blick aus. Ruckartig hebt sie ihre Hand und deutet auf mich. Dabei verfehlt die Klinge um ein Haar das Gesicht ihrer Mutter.
Leonie sieht mich an. Ein Lächeln zieht sich über ihr Gesicht.
»Papa!«, bestimmt sie.
Vor Schreck sacke ich auf die Knie.
So habe ich mir mein Ende nicht vorgestellt. Ich hatte gehofft, ich sterbe an einem Herzinfarkt in den Armen von mindestens einer Geliebten. Oder mit gebrochener Wirbelsäule nach einem furiosen Tanzschritt auf dem Dancefloor. Aber nicht von einem Kleinkind enthauptet in einem Familienhotel.
Anne und ich kauern vor der kleinen Leonie wie Delinquenten vor dem Henker. Im Raum ist es so still, dass ich das rhythmische Schmatzen der Babys an ihren Schnullern höre.
Leonie hebt das Messer.
Wie alles begann: Schocktherapie à la Chef
Der Konferenzraum des Wochenmagazins »Der Münchner« liegt unter dem Dach – dort, wo die Luft entweder zu dünn oder zu dick
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