Blade 02 - Nachtklinge
…«
»Deine Mutter?«
»Du musst damit aufhören.«
Er küsste die Tränen aus ihrem Gesicht. Er war er selbst, und er war das Monster. Giulietta hingegen war widersprüchlich und verwöhnt, schlicht und freigiebig. Sie befanden sich gemeinsam im Auge des Orkans. Er konnte und wollte sie nicht verlassen, ebenso wenig wie sie ihn in der Nacht im Stich gelassen hatte, als er Iacopo getötet hatte.
Er hasste Venedig. Er verabscheute das Wasser, das die Stadt angeblich so sicher machte. Die überfüllten Straßen, die stinkenden Kanäle, die ewigen Streitigkeiten zwischen den Castellani und den Nicoletti, die Gier der Bürger und die Verachtung der Adeligen für alle anderen. Die nackte Not der Armen, ein Spiegelbild seiner eigenen nie gestillten Gelüste.
Aber mitten in dieser Stadt, die er so sehr verabscheute, lebte Giulietta.
Sie hatte sich allmählich beruhigt. Tycho gelang es nicht, sich vorzustellen, wie grausam die Welt ihrer Kindheit gewesen sein musste, genauso wenig wie sie ein Bild von der gnadenlosen Brutalität seiner eigenen Kindheit hatte.
»Woran denkst du?«, fragte sie.
Sie hörte ihm zu und sagte abschließend: »Wir können das ändern.«
Tycho versuchte zu entschlüsseln, was
das
bedeuten mochte.
»Die Nicoletti haben Brüder und Schwestern und«, sie stockte, »sie haben Kinder und Menschen, die sie lieben. Genau wie die Castellani. Wie die Mauren und die Hebräer.
Wenn ihr uns schneidet, bluten wir nicht?
Das hat der Schatzmeister meines Onkels vor seiner Enthauptung gesagt. Er ist in Armut aufgewachsen und als mittelloser Mann gestorben, weil mein Onkel ihm sein Vermögen genommen hat.«
»Marco der Gerechte?«
»Gerecht war er nur zu Adligen, reichen Bürgern oder jenen, die ihm nutzten.«
So hatte er Giulietta noch nie sprechen hören.
»Wenn ich das hier überlebe, werde ich anders sein. Wenn ich Dogaressa bin und Venedig regiere, sorge ich dafür, dass die Millioni abtreten und Venedig wieder zu einer Republik wird. Du kannst mir dabei helfen.«
Tycho wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
57
E inst hatte Venedig aus lauter Hütten auf Pfählen bestanden, aber das war Jahrhunderte her und nur wenige dieser Gebilde standen noch. Die fünf Hütten auf Giudecca wirkten schäbig und verlassen.
Sie ragten etwa einen Meter aus dem Wasser und waren drei Meter vom Land entfernt. Ein schmaler Steg führte vom Ufer zur ersten Hütte, und ein paar Planken verbanden die Hütten miteinander.
Sie würden ein gutes Versteck für einen Hinterhalt bieten. Wenn ein Boot hier anlanden wollte, könnte Tycho es angreifen. Er ließ Giulietta und Rosalie von Bord klettern und in den Schlamm am Ufer springen.
»Wir gehen gemeinsam hinüber.«
Er ging voran, gefolgt von Rosalie. Giulietta bildete mit Leo das Schlusslicht. Falls ihnen Armbrustschützen auflauerten, würden sie zuerst Tycho und Rosalie erschießen müssen. Der Uferschlamm schmatzte unter seinen Füßen. Tycho atmete erleichtert auf, als sie endlich trockenen Boden erreichten.
Während Dr. Crows Boot nach Süden in Richtung des jüdischen Friedhofs davonglitt, erreichten sie den Steg zu den Hütten. Die unheilvoll knarrenden Planken schwankten unter Tychos Füßen.
»Tycho …«
Er wandte sich um.
Giulietta blickte wie zweifelnd auf den morschen Steg. Es gab kein Geländer, die Hälfte der Bretter fehlte, ein Pfosten war in der Mitte durchgebrochen, ein anderer längs gespalten. Tycho versuchte sich vorzustellen, wie Giulietta den Weg vor sich sah. Ohne seinen Gleichgewichtssinn und mit einem kleinen Kind auf dem Arm.
»Rosalie, bleib bei Giulietta, versteckt euch.«
»Ja, Meister.« Rosalies Stimme verriet, was sie davon hielt.
Mit gezücktem Dolch schlich Tycho den Steg entlang und stürzte in die erste Hütte. Nichts. Die verrotteten Bodenbretter gaben den Blick auf schäumende Wellen frei. Die anderen Hütten waren ebenfalls leer, und Tycho überprüfte gerade die letzte, als er plötzlich einen gellenden Schrei vernahm, der jäh verstummte.
Mit einem Satz durchbrach er die morsche Ecke der Hütte. Holz splitterte, als er zur nächsten Hütte sprang und von dort aus mit einem gewaltigen Satz zurück auf den Steg. Am Strand bekam er Rosalie gerade noch zu fassen, ehe sie zusammensackte.
»Wo ist Giulietta?«, herrschte er das Mädchen an, dann bemerkte er das zerrissene, blutige Kleid. Rosalies Arme und Beine waren mit unzähligen, winzigen Schnittwunden übersät war, aus denen Blut lief.
»Was ist
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