Blade 02 - Nachtklinge
dieser Männer war gewöhnlich, auch wenn sie Fäkalien schaufelten oder Leichen begruben. Ein Höllenwesen, das den Mond anheulte, hatte sie zutiefst erschüttert.
»Hier legen wir an.« Tycho deutete auf den Bootssteg.
Sie holten hastig die Ruder ein und machten das Boot fest. Giorgio warf einen prüfenden Blick über die Lagune und die mit Gestrüpp überwucherte Insel. Er erschauerte. »Vielleicht sollten wir lieber weiter draußen auf Euch warten, Herr.«
»Ihr wartet genau hier.«
»Diese Insel gehört uns.« Der stumme Protest hallte in Tychos Schädel.
Die hohläugigen, elenden Gesichter im Nebel schienen alle dasselbe zu rufen. Er konnte die wilden Rosen durch sie hindurch sehen. Das Flimmern dahinter kam entweder vom besternten Himmel oder dem weit entfernten Festland.
»Ihr könnt sie behalten.«
»Diese Insel …«
»Ich suche das Mädchen.«
»Ahhhh.« Die Stimmen verstummten, während Gesichter sich formten und wieder im Nebel zerflossen. Sie schienen nachzudenken. Tycho fühlte sich wie im Traum. Oder waren die drei verängstigen Männer im Boot, die diese Gesichter nicht sahen, nur ein Traum?
»Sie ist tot«, sagten die Stimmen schließlich.
»Dann bin ich ebenfalls ein Toter.«
Die Gesichter erstarrten.
Weiße Masken mit dunklen Augenlöchern. Er nahm die unterschiedlichsten Mienen wahr: lächelnde, finstere, ungerührte, erzürnte, neugierige und verblüffte.
»Du gehörst nicht zu uns.« Die Nebelschwaden lösten sich plötzlich auf, das leise, traurige Gemurmel verstummte. Die Geister waren verschwunden, als hätten sie hier nichts mehr verloren.
Tycho drehte den Körper eines der toten Castellani mit dem Fuß um. Obwohl die Verwesung schon weit fortgeschritten war, gab es keinen Zweifel, dass der Mann ausgeweidet worden war. Seine Kehle war durchbissen, der Kopf saß verdächtig locker auf den Schultern. Das Genick war gebrochen.
Ein schneller, grausamer, ungeschickter Mord. Das Blut war weithin verspritzt worden. Bestimmt war sie vom Rest nicht satt geworden.
Im Nu entdeckte er ihre Spuren.
Die Fußabdrücke im Schlamm zeigten, wo sie hin und her gerannt war. Tycho erkannte ihren Zorn, ihre Frustration.
Sie war mehrmals am Strand gewesen, hatte die Insel in beide Richtungen umkreist, um immer wieder an derselben Stelle zu landen.
Warum?
Eine Antwort lag vor seinen Augen.
Die Gießereien in Cannaregio zeichneten sich als schmale Lichtstreifen ab, und die Fackelträger, die den Uferweg entlanggingen, waren als Lichtpunkte zu erkennen. Von der Insel aus ging der Blick zum Nordufer der Stadt. Als er aufmerksam lauschte, hörte er die Glocke auf der Piazza San Marco zehn Uhr schlagen.
Das Mädchen besaß ein ebenso feines Gehör wie er.
Hinter ihm lag der zweite Grund, aus dem sie immer wieder an diesen Punkt zurückgekehrt war. Über einem offenen Grab lag ein umgedrehtes Boot, der Boden ringsum war plattgetrampelt. Er zog das Boot beiseite. Dahinter lag der Eingang zu ihrer privaten Hölle.
Er brauchte sie nur herauszulocken.
Auf dem Rückweg zur Anlegestelle war alles still bis auf die sanfte Brise, die durch das Gestrüpp strich. Auf dieser Insel gab es keine Vögel, keine Ratten oder Mäuse.
Tycho erinnerte sich, wie entsetzlich es war, so hungrig zu sein.
Am Ufer befahl er Giorgio, auf die Insel zu kommen. Der Küster gehorchte widerstrebend.
»Streck die Hand aus.«
Giorgio blickte noch unglücklicher drein.
Tycho zückte den Dolch. Bevor der Mann protestieren konnte, schnitt die Klinge in seine Haut. Blut quoll hervor und tropfte auf den Boden.
»Lauf zurück zum Boot!«, befahl Tycho.
Erde schoss wie eine Fontäne hervor, als das Mädchen aus ihrem Grab sprang. Sie landete auf allen vieren, ihr Mund war aufgerissen und ihre Reißzähne entblößt. In ihren Augen war nichts Menschliches mehr.
»Beweg dich!«, schrie Tycho den Küster an.
Sie prallte mit voller Wucht gegen ihn, als Tycho sie abfing, und er taumelte rückwärts ins Dornengebüsch. Sie bestand nur aus Haut und Knochen, wehrte sich aber mit aller Macht gegen seinen Griff, besessen davon, den Mann zu verfolgen, der zum Boot hastete. Es gelang ihr nicht, sich zu befreien.
»Verdammt noch mal, lauf!«
Über ihm heulte das Mädchen in blinder Wut auf, als der Küster endlich mit einem Satz ins Boot sprang. Sofort ruderten die Männer los.
Zu Lebzeiten war sie vierzehn Jahre alt gewesen.
Als Untote wirkte sie nicht älter. Hungernde Kinder sahen jünger aus und alterten als Erwachsene
Weitere Kostenlose Bücher