Blade 02 - Nachtklinge
schneller. Das wusste er aus Bjornvin. Hungernde Kinder glichen einander überall auf der Welt.
Tycho fragte sich, wie er sie töten sollte.
Die Bestie in ihr gierte nach Blut, und sie war außer sich vor Zorn.
Auf dieser Insel gab es nichts Essbares mehr. Ihre Beute war entwischt, und es war seine Schuld. Ihm war, als sehe er sein eigenes Spiegelbild, das Fremdartige in ihrem Gesicht, seine eigene blasse Alabasterhaut.
Sie schnappte nach seiner Kehle. Er rammte ihr den Ellbogen unter das Kinn und versetzte ihr einen so heftigen Tritt, dass sie wie ein knöchernes Bündel durch die Luft flog und einige Schritte entfernt zu Boden ging. Sie kam erneut auf die Beine und stürzte sich sofort wieder auf ihn.
Sie war so schnell, dass Tycho beinahe hintenüber kippte. Er führte einen Hieb gegen ihre Kehle, den sie mühelos abwehrte. Den zweiten ebenso. Hass funkelte in ihren dunklen Augen.
Er schleuderte sie von sich, doch sie attackierte ihn so rasch wie zuvor. Er wich ihr mit einer Seitendrehung aus und ließ sie ins Gestrüpp laufen. Wütend riss sie sich aus den Dornen. Nie zuvor hatte sie einen solchen Gegner gehabt. Niemanden, der so …
Doch darum ging es jetzt nicht.
Ihre Enttäuschung bewies vielmehr, dass sie kein seelenloses Wesen war. Furcht, Wahnsinn, körperlose Stimmen, Verzweiflung, all das kannte er nur zu gut. Plötzlich begriff er, was sie war, und die Wucht der Erkenntnis traf ihn unvorbereitet wie ihr nächster Angriff.
Sie fühlte ebenso wie er.
Wenn er sie tötete, tötete er sein eigenes Abbild, das einzige, das es vielleicht je geben würde.
Er wich einem Tritt aus, und als sie versuchte, ihm die Kehle aufzuschlitzen, wehrte er den Schlag ab, wieder und wieder, bis alles ringsum allmählich verschwamm und die Sterne nur noch als undeutliche Flecken am Himmel standen. Zwei fremdartige Wesen in ihrer eigenen Welt. Nichts anderes existierte mehr. Schließlich ging Rosalies Atem immer schwerer, und sie wusste, dass sie den Kampf verloren hatte.
Tycho zog den Dolch und hielt inne.
Alexa hatte befohlen, das Mädchen zu töten. Es wäre lebensgefährlich, ihren Befehl zu missachten. Warum sollte er dieses Risiko eingehen? Um diesem
Wesen
zu helfen, schmutzverkrustet, bereits tot, kaum noch menschlich?
Tot, kaum noch menschlich.
Genau wie er selbst.
Und doch … Wer hatte ihn damals, als er in Venedig angekommen war, aus dem Canal Grande gezogen? Keine andere als Rosalie. Er hatte es ihr nicht gedankt, sondern ihren Tod heraufbeschworen. Für ihren zweiten Tod wollte er nicht verantwortlich sein. Obwohl er wusste, dass er es bereuen würde, steckte er seinen Dolch in die Scheide. Als sie erneut auf ihn losging, packte er sie, hob sie hoch, trug sie zur Anlegestelle und schleuderte sie ins Wasser.
Sie schrie gellend auf.
Als sie sich mühsam durch den sumpfigen Boden an Land schleppte, hob er sie wieder hoch. Sie schlug um sich, zappelte und kreischte, während er zum Ufer ging und sie erneut ins Wasser warf. Tycho wusste, dass es grausam war, aber er hörte nicht auf.
Jedes Mal, wenn sie ihn erreicht hatte, zog er sie auf die Beine, zerrte sie ans Ufer und beförderte sie zurück ins Meer, bis sie schließlich zu erschöpft war, um an Land zu kommen. Irgendwann verwandelte sich ihr tierisches Geheul langsam in menschliches Schluchzen.
Er hielt sie fest, als sie mit letzter Kraft um sich schlug.
Du hast zugelassen, dass sie mich töten.
Tycho trug sie ans Ufer. Bei jedem Schritt versank er bis zu den Knien im morastigen Untergrund, während ihn die drei Männer in sprachlosem Entsetzen anstarrten. Obwohl Rosalie sich wie ein Dämon wehrte, fauchte und die Zähne bleckte, wog sie fast nichts. Kurz darauf schlief sie vor Erschöpfung in seinen Armen ein.
»Ihr behaltet für euch, was ihr heute gesehen habt!«
Die drei Männer sahen abwechselnd Tycho und das nackte Mädchen an. Was sie gesehen hatten, ging über ihren Verstand. Sie waren froh, mit heiler Haut davongekommen zu sein.
»Ihr habt mich verstanden, oder?«
28
D ie Rückreise verlief ereignislos. Tycho drückte dem Küster und seinen Freunden zu deren Überraschung ein paar Goldmünzen in die Hand und warnte sie eindringlich, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten, wenn sie den Mund nicht hielten. Auf dem Weg durch das nächtliche Venedig blieb er unbehelligt.
Die Nachtwache bog gleichzeitig mit ihm auf einen verwahrlosten Platz ein. Die Männer hießen ihn stehen bleiben und hoben die Fackeln. Ein Blick auf Tychos kostbare
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