Blade 02 - Nachtklinge
verlangte.
Was bist du wirklich?
Tycho warf einen Blick auf die deutsche Handelsniederlassung und das Gewirr kleiner Straßen, die dorthin führten. Plötzlich wusste er, wo er die Antwort auf diese Frage finden würde. In der Straße der Schreiber ließ man sich Briefe von Juden verfassen oder vorlesen. Es hieß, Juden seien besonders belesen und in Dingen bewandert, die sonst niemand wisse.
Tycho erinnerte sich an einen Namen. Atilo hatte ihn gemurmelt, als er eine Liste derjenigen Personen erstellt hatte, auf die der Rat besser ein Auge haben sollte …
»Rabbi Abraham?«
Der alte Mann lächelte. »Tretet ein.«
»Mein Meister, mein verstorbener Meister, genauer gesagt, hat immer mit größter Hochachtung von Euch gesprochen.«
Der Rabbi nickte, ohne nach dem Namen des Meisters zu fragen oder sich zu erkundigen, warum Tycho unversehens an einem Fenster im ersten Stock aufgetaucht war.
»Er meinte, Ihr würdet mehr über
patere
wissen als irgendjemand sonst.«
Diese geschnitzten Medaillons wurden von Gilden, Familien und Banden benutzt und fanden sich an vielen Häusern der Stadt.
»Was hat er sonst noch gesagt?«
»Dass Ihr die Sterne deutet und mit bloßem Auge die Farbe der menschlichen Seele erkennt. Und dass Ihr die tausend Namen Gottes kennt.«
»Die niemals ohne Grund ausgesprochen und niemals zusammengetragen werden dürfen. Falls dies geschieht, muss man sie in der vorgeschriebenen Weise verbrennen.« Die Stimme des Rabbis klang plötzlich streng. »
Patere,
Sterne, Seelen und die Namen Gottes: Was davon führt dich mitten in der Nacht an mein Fenster? Hast du vielleicht Fragen zu einer Banden-
patera
?«
»Man sagt, Ihr seid der weiseste Mann in Venedig.«
»So viel Gerede«, sagte der Rabbi seufzend. »So wenig Studium und gesunder Menschenverstand. Was willst du von mir?« Sein Ton klang sanfter als seine Worte.
»Ich will wissen, was ich bin.«
Rabbi Abraham nahm eine Kerze von seinem Arbeitstisch und ging prüfend um Tycho herum. »Ein mit Blut bespritzter junger Mann«, erklärte er nach einer Weile. »Einer der glaubt, dass der Dolch in seinem Gürtel einen ganzen Mann aus ihm macht. Einer wie tausend andere auf der Straße. Das ist die passende Antwort. Was glaubst du denn selbst?«
»Ich glaube, ich bin ein Dämon.«
Daraufhin unterzog ihn der Rabbi einer genaueren Prüfung.
Er betastete Tychos Gesicht, untersuchte seine Finger, hob seine Lider an und schaute ihm in den Mund. Schließlich legte er den Kopf an seine Brust, lauschte und erstarrte.
Eine halbe Stunde später legte Rabbi Abraham eine Sternenkarte beiseite und goss Wein in zwei große Gläser. Er trank aus einem, bot Tycho das andere an und machte ein finsteres Gesicht, als der ablehnte. »Los, trink.«
»Was habt Ihr entdeckt?«
»Etwas Unerwartetes.«
Tycho wartete.
»In den Sternen und meinen Kalkulationen sollte ich eigentlich deine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lesen können. Aber wenn es stimmt, was sie mir sagen, dann existierst du erst seit einem oder höchstens zwei Jahren.«
»Ihr habt nichts von Wüsten oder Wahnsinn in den Sternen lesen können?«
»Hätte ich das denn sehen sollen?«
»Das hat man mir jedenfalls gesagt.«
Der Rabbi leerte sein Glas in einem Zug und hatte sichtlich Verlangen nach einem weiteren. Er widerstand der Versuchung, ließ sich auf einen Stuhl sinken und winkte Tycho näher. »Bevor du
nicht
existiert hast, hast du an einem anderen Ort gelebt.«
»In Bjornvin.«
»Du weißt davon?«
»Ich kann mich daran erinnern.«
»Sind das weit zurückliegende Erinnerungen? Solche, die mehrere Lebensspannen zurückreichen?«
»Für mich ist es, als sei alles gestern passiert.« Tycho sprach die Wahrheit. Bjornvin war ihm so gegenwärtig wie sein erster Tag in Venedig und die Erinnerung daran so unmittelbar, dass er beinahe meinte, den sauren Rauch der brennenden Halle in der Kehle schmecken zu können.
»Was war deine schlimmste Untat?«
»Ich habe gemordet.«
»Halb Venedig mordet beinahe täglich.«
Tycho blickte zweifelnd drein.
»Manche morden mit einem Messer, andere mit Worten. Die meisten morden, indem sie über einen Bettler hinwegsteigen oder sich taub stellen, wenn sie jemanden schreien hören. Wenn dich ein Mord zum Dämon macht, bist du in einer Stadt voller Dämonen und in einer Welt voller Dämonen. Erzähl mir von dir.«
»Ich kann im Dunkeln sehen. Das Sonnenlicht schmerzt mich.«
Die Lippen des Rabbi formten eine harte Linie.
»Du kommst zu
Weitere Kostenlose Bücher