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Blamage

Blamage

Titel: Blamage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Saehrendt
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Peinlichkeitsempfinden geprägt haben und speichert diese in einem persönlichen »Missgeschickskatalog«. Das gesellschaftliche Peinlichkeitsempfinden, das unser aller Blamagenkataloge prägt, ändert sich mit der Zeit allerdings. Es unterscheidet sich von Land zu Land, von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche. Der Soziologe Norbert Elias warf in seinem Standardwerk Über den Prozess der Zivilisation gar die These auf, dass die immer höher werdenden Scham- und Peinlichkeitsbarrieren den eigentlichen Prozess der Zivilisierung ausmachten. Sich blamieren zu können wäre demnach eine große zivilisatorische Leistung.
    Elias zufolge entstand das Peinlichkeitsempfinden im Zuge der Ausdifferenzierung von Arbeitswelt und Sozialstruktur im 16. Jahrhundert. Handel und Handwerk, Verkehr und Feste machten es notwendig, immer häufiger mit Fremden zu verkehren oder mit Kollegen auf engem Raum zusammenzuarbeiten: »Der Einzelne wird gezwungen, sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren.« Dazu, führte Elias aus, sei der Aufbau eines »inneren Selbstzwangapparates« notwendig geworden, der eine differenziertere und stabilere Regelung des Verhaltens quasi automatisch regele und auch dann funktioniere, wenn sich die Menschen willentlich dagegenstemmten. 24 In der sich verfeinernden Wirtschafts- und Sozialordnung des neuzeitlichen Europas war eine stärkere und dauerhafte Affektkontrolle notwendig geworden, die Scham- und Peinlichkeitsgrenze rückte weiter vor. Zunächst war dieser Vorgang noch klassen- bzw. standesspezifisch, war also auf die Oberschichten beschränkt. Erst später, im bürgerlichen Zeitalter, fand das »gute Benehmen« in der ganzen Gesellschaft Verbreitung, wobei das Verhalten der Oberschichten oftmals als vorbildhaft und prestigeträchtig galt und deshalb nachgeahmt wurde. In der ersten Phase dieses Prozesses wurden die vormals direkt ausgelebten Affekte durch ein äußeres Regelwerk von Vorschriften und Sanktionen unterdrückt, in einer zweiten Phase sind diese Regeln schon so verinnerlicht worden, dass sie gar nicht mehr als Folge äußeren Zwanges wahrgenommen werden. Damit hatte sich das zwischenmenschliche Konfliktpotenzial von der äußeren in die innere Welt verlagert: Spannungen, die sich früher in gewaltsamen Kämpfen entluden, wurden nun als innere Spannung im Kampf des Einzelnen mit sich selbst erlebt und bewältigt. Nun wurde etwa die Gefahr, dass ein Fest, ein Tanzabend oder ein sonstiger gesellschaftlicher Anlass plötzlich durch Wut und Effekt in eine mörderische Auseinandersetzung kippen könnte, geringer. Stattdessen verwandelte sich die Öffentlichkeit in eine Zone anderer Gefahren, insofern als dass man nun an die eigene Schamgrenze oder an die Peinlichkeitsschwelle der anderen rührte.
    Gefühle wurden zunehmend Privatsache, die in der öffentlichen Sphäre geäußerten Emotionen als peinlich empfunden, der Gefühlsausbruch als Kontrollverlust des Individuums gefürchtet. Im weiteren Verlauf der Kulturgeschichte, besonders im 20. Jahrhundert, kam es zu einer Lockerung, bei dem der Umgang mit der eigenen Körperlichkeit und mit den anderen Menschen generell informeller wurde. Wobei aber der im Laufe der Zivilisationsgeschichte entwickelte innere Selbstzwangapparat im Wesentlichen erhalten blieb. In der Moderne beobachten wir nun einerseits eine immer feinere Ausdifferenzierung des verinnerlichten Peinlichkeits- und Anstandsgefühls, andererseits aber auch Befreiungstendenzen der Gefühlswelt (z. B. die Lebensreformbewegung um 1900, die Hippie-Zeit in den 1960er-/70er-Jahren oder die Rave-Kultur in den 1990ern). Wiederum riefen diese Moden emotionaler Befreiung jedes Mal Gegentendenzen hervor: So kann etwa die extreme Selbstkontrolle der »coolen« 1980er-Jahre als Reaktion auf die sexuelle Befreiung und den ungezwungenen Lebensstil der 1970er interpretiert werden. Summa summarum lässt sich in den letzten 250 Jahren eine Pendelbewegung feststellen zwischen einer gefühlsbetonten, schwärmerischen Kultur und einer rationalen, kontrolliert-kühlen Grundhaltung. Die Kernfrage dabei ist: Wie steht man zu Gefühlen? Lässt man sie zu, wird es akzeptiert und erwartet, dass man sie äußert oder gilt dies als peinlich? Oft geht es auch darum, in welcher Form Gefühle ausgedrückt werden, dies macht dann den Unterschied

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