Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
1
S ie hatte keine klare Vorstellung davon gehabt, was der Anblick des Dorfes in ihr auslösen würde. Die Bilder, die sie die letzten zwanzig Jahre mit sich herumgetragen hatte, waren diffus. Eine leicht hügelige Landschaft. Weilerhöfe. Felder, die in alle Himmelsrichtungen gegen Wände aus dichtem Nadelwald stießen. Es waren vage Erinnerungen, die stets widersprüchliche Empfindungen in ihr geweckt hatten. Furcht und Argwohn. Aber auch eine schwermütige Sehnsucht.
Als sie das Ortsschild passierten und sie den Namen des Ortes las, verkrampften sich ihre Hände um das Lenkrad. Doch kaum hatte sie die ersten Häuser erblickt, wurde ihr klar, dass ihre Vorahnungen einer Illusion geschuldet sein mussten. Sonst hätte sich doch angesichts der Höfe und Felder vor ihren Augen irgendein Gefühl der Vertrautheit einstellen müssen. Aber da war nichts. Was da vor ihr lag, war ihr fremd, auch wenn es etwas spiegelte, das sie seit ihrem achten Lebensjahr immer wieder vor sich sah.
»ACHTUNG!«
Anja schreckte hoch und riss das Steuer herum. Der Mann auf dem Beifahrersitz verlor das Gleichgewicht. Sein kräftiger linker Oberarm presste sich gegen sie. Das linke Vorderrad erwischte das Schlagloch noch schlimm genug. Ein harter Stoß erschütterte den VW-Bus, und er begann zu schlingern. Anja lenkte scharf gegen. Der Mann neben ihr flog hart gegen die Beifahrertür. Er warf ihr einen Blick zu, der alles Mögliche bedeuten konnte, aber sie versuchte erst gar nicht, das Richtige herauszulesen.
»Warum schnallen Sie sich auch so früh ab?«, fragte sie gereizt.
Obermüller angelte stumm nach seinem Gurt, den er gerade erst beim Passieren des Ortsschildes gelöst hatte, und rammte wortlos die Metallzunge in die Halterung. Im selben Moment krachte das rechte Vorderrad in das nächste Schlagloch, und augenblicklich erfüllte das Klirren gegeneinanderschlagender Metallstangen den Innenraum des Wagens.
Anja verzog schmerzhaft das Gesicht und dachte an ihre Stoßdämpfer und daran, dass sie absolut kein Geld für neue hatte. Dann wandte sie den Kopf und warf einen genervten Blick auf die Ladefläche, wo zwei schwere Bohrstöcke seitwärts über den Blechboden rutschten. Aber sie waren fast da. Es lohnte sich nicht mehr, extra anzuhalten, um die Stöcke zu sichern.
Sie kurbelte die Fensterscheibe ein Stück herunter. Die Herbstluft war kühl. Zwischen den Waldhängen hing Frühnebel, aber das Wetter sollte später angeblich gut werden. Menschen waren nicht zu sehen. Auf einem teilweise abgeernteten Feld am Waldrand stand eine Erntemaschine. Ihr Einsatz würde vermutlich nicht lange auf sich warten lassen, und der Lärm würde sie bis tief in den Wald verfolgen. Schade! Die Stille im Wald war die schönste Belohnung für das enorme Arbeitspensum, das vor ihnen lag.
Sie würden sich durch jedes erdenkliche Dickicht kämpfen, aufrecht, gebückt oder, wenn es sein musste, auf allen vieren. Obermüller würde alle fünfzig Meter einen Bohrstock in den Boden hämmern, ihn wieder herausdrehen und dann für sie ablegen. Sie hätte inzwischen per Kompass den nächsten Einschlag bestimmt, er würde fünfzig Meter in die vorgegebene Richtung gehen und dort die nächste Probe ziehen, während sie die Bodenhorizonte auf dem Bohrstock ablas und auf ihrem Datenblatt eintrug. Vielleicht würde es unliebsame Überraschungen geben? Ein aufgescheuchter Schwarm Erdwespen oder ein tollwütiger Fuchs. Und wie viele Zecken würde sie sich wohl am Abend aus der Haut drehen?
Sie hatte in den drei Wochen seit Beginn ihres Praktikums zwar bereits ein wenig Routine gewonnen, aber im Grunde war doch jeder Tag anders verlaufen. Dass sie heute überhaupt in diesem Gebiet kartierten, war nicht geplant gewesen. Aber ihr bisheriges Einsatzgebiet war am Wochenende von einem Herbststurm derart in Mitleidenschaft gezogen worden, dass dort auf Monate kein Durchkommen war. Sie hatte erst gestern von der Änderung erfahren, sich nichts anmerken lassen, neues Kartenmaterial geholt und den ganzen Sonntag damit verbracht, den Begehungsplan auszuarbeiten. Schweigend. Konzentriert. Jegliches Unbehagen ignorierend.
Sie hatte niemandem erzählt, warum sie hier war. Der Einzige, der Bescheid wusste, war Dr. Venner-Brock. Diese Doppelnamen! Das Zeitalter der Unschlüssigen. Man konnte nicht einmal sagen, welcher Name zu wem gehörte. War sie vier Monate lang bei einem Herrn Brock in Therapie gewesen, der eine Frau Venner geheiratet hatte? Oder umgekehrt? Der Mann wusste so
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