Blamage
auf privater, individueller Ebene erwünscht, sondern im Dienst eines groÃen Ziels, etwa der Weltherrschaft der germanischen Rasse oder des Sozialismus. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führte wiederum zu einer Versachlichung des Zeitgeistes, Pragmatismus und partielle Amnesie im Dienste des Ãberlebens waren opportun. Es ist die Zeit der Wirtschaftswundermentalität, die sich in Phrasen ausdrückte wie: »Probleme in den Griff kriegen« oder »am Drücker sein«. Wie erwähnt, lässt sich das Verhältnis der Zeitgenossen zur eigenen Gefühlswelt wie in einer Wellenbewegung darstellen, und das gilt erst recht für das 20. Jahrhundert: Auf schwärmerische, romantisierende oder gefühlige Phasen folgten stets Mentalitäten, in denen Coolness und Affektkontrolle angezeigt waren. Jede dieser kulturgeschichtlichen Wellen grenzte sich von der vorhergehenden ab, deren kulturelle Erzeugnisse, Bekenntnisse, sprachliche Codes nun als peinlich, lächerlich und überholt galten. Diese Mode-Mentalitäten beeinflussen oft die gesamte kulturelle Produktion einer Epoche, die Kunst, die Filme, die Mode, sie prägen die Umgangssprache, die Codes des Flirts und der Konversation. Doch lassen Sie uns die Blamagen jener Jahrzehnte überspringen und die Zeitmaschine in den 1980ern anhalten.
Kohl statt cool â Der peinliche Star der 1980er
Rührende Emotionen und utopische Träume von weltumspannender und weltverbessernder Liebe, wie sie in den vorangegangenen 1970er-Jahren im Zuge der Hippiebewegung aufkamen, waren nun out, angesagt war stattdessen Selbstbeherrschung, und Künstlichkeit trat an die Stelle von natürlicher Ungezwungenheit. Diese neue Ãra der Coolness verlangte maskenstarre Gesichter, abgeklärte Sprüche, elektronische Musik und roboterhafte Tanzstile. Es ist die Zeit der 1980er und frühen 1990er mit einem grassierenden ökonomischen Neoliberalismus, in der Figuren wie die »Eiserne Lady« Margaret Thatcher oder der alternde »Cowboy«-Präsident Ronald Reagan für einen Wertewandel standen, in dem nun Wettbewerb, Härte, Deregulierung, Privatisierung und Bereicherung im Vordergrund standen, und in dem der Konsum zum grundlegenden persönlichen Profilierungsmerkmal wurde. Coolness, in der Maske eines »virilen Narzissmus« diente als Panzerung, als Schutz gegen eine zunehmend erkaltende Umwelt â so drückte es der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen aus. 43
In den coolen Zeitgeist der 1980er passte der CDU -Politiker Helmut Kohl überhaupt nicht. Weithin wurde er als Ausbund von Peinlichkeit empfunden: provinziell, selbstgefällig-gemütvoll, plump. Als peinlich wurde allein schon die Tatsache erachtet, dass Kohl, der 1982 Bundeskanzler wurde, so gewöhnlich war, wie sein Konkurrent Franz Josef Strauà einmal boshaft bemerkte: »Mich fasziniert bei den Fernsehauftritten Helmut Kohls immer wieder, dass der den Eindruck erweckt, jeder könnte Bundeskanzler werden.« Kohl hingegen triumphierte in der Zeit nun über alle, die ihn unterschätzt hatten: »Wenn Sie jahrelang geglaubt haben, da ist einer, der ist ein Dorfdepp, der ist den Rhein raufgekommen, dann haben Sie jetzt ein Aha-Erlebnis!« Die Liste von Kohls Blamagen, die in unzähligen Pressebeiträgen, Büchern, Satiren genüsslich zelebriert wurden, ist endlos. Es begann schon bei seinem Erscheinungsbild: Die Imagedesigner und Politikberater arbeiteten verzweifelt an Kohls Ausstrahlung. Am Anfang seiner Karriere hatte er optisch zu wenig Profil, um von Wählern und Journalisten überhaupt wiedererkannt zu werden. Später war es schwierig, den dicken, breit grinsenden Pfälzer als intelligenten, kompetenten Staatsmann in Szene zu setzen. Der zeitweilige Verzicht auf seine Allerweltsbrille brachte auch keine Besserung, denn nun wirkte das Gesicht noch formloser. Die Intellektuellen spotteten über die tumbe »Grundgrimasse der Demokratie« (Hermann Glaser) oder die durch Kohl personifizierte »unästhetische Demokratie« (Walter Grasskamp). Unter Journalisten wurden Kohls ungeschickte PR -Marotten zum Running Gag: Sobald Kameras auf ihn gerichtet waren, begann er nervös zu zucken und sich am Jackett zu zupfen, und im Blitzlichtgewitter der Fotografen fing er wie auf Knopfdruck an, lauthals zu lachen, um »positive« Bilder zu liefern. Auch im Ausland leistete sich Kohl legendäre Fauxpas. Den
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