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Blamage

Blamage

Titel: Blamage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Saehrendt
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der Künstler hatten Gefühl und Schwärmerei, Weichheit und Passivität keinen Platz mehr im Leben eines Mannes und galten als peinliche Eigenschaften, die in Familie, Schule und Militär ausgemerzt werden sollten.
    Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch ein neues wissenschaftliches Schlagwort populär: die Nervosität oder, als Krankheitsbild, die Neurasthenie. Der Historiker Joachim Radkau sprach von jener Epoche als einem Zeitalter der Nervosität . Die Ȇberreizung« der Nerven konnte als entlastende Erklärung für allerlei Fehlverhalten dienen und erlaubte es nun auch Männern, sich den Anforderungen der Gesellschaft zu entziehen: Ängstlichkeit, Überforderung, Impotenz – dies alles, was dem herrschenden virilen Mannesbild widersprach, konnte nun als Ausdruck einer ernsten Krankheit interpretiert werden. Galt ein Mann, der derartige Symptome zeigte, bislang als peinliche Variante einer weiblichen Hysterikerin, waren ihm nun ehrenvolle und angenehme Behandlungen und Kuraufenthalte sicher – ein Ausweg aus dem Diktat, stets männliche Härte an den Tag legen zu müssen, wenngleich das »neurotische Abwehrverhalten gegen das Weibliche und die damit zusammenhängende Hypertrophie der Homosexualität« 40 , so der Kultursoziologe Nicolaus Sombart, weiterhin die Mentalität jener Zeit dominierten. Es herrschte das Ideal des energischen Mannes, der sachlich und kämpferisch seine Ziele verfolgt, während das weibliche Wesen als trübe, triebhaft, gefühlvoll und wirr, mithin als bedrohlich empfunden wurde. Und die Überschreitung dieser Geschlechtergrenzen, die Annahme typisch weiblicher bzw. männlicher Verhaltensweisen durch Männer bzw. durch Frauen galt als höchst peinlich. Die Gesellschaft war, so Radkau, »durch eine dialektische Spannung charakterisiert: Ihre harten Züge entwickelten sich als Abwehrreaktion auf konträre Eigenschaften. Der ›Kult des Energischen‹ spiegelte ein weit verbreitetes hypochondrisches Schwächegefühl.« 41 Aus Angst vor ihrer weiblichen Seite reagierten viele Männer über und legten ein forciert männliches Verhalten an den Tag, dessen Erscheinungsformen uns heute lächerlich vorkommen: eine steife Körperhaltung, knappe, militärische Ausdrucksweise im Rapportstil, schnarrender Casinoton, Blickduelle und Duellforderungen, zotiger Humor, überhaupt: eine Vergötterung alles Militärischen. Nichts war peinlicher als »zivilistische Schlappheit«, hochpeinlich war auch die Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen, dem eigenen Körper, mit Sexualität, blamabel, ja geradezu kriminell war die Selbstbefriedigung, der überdies schlimmste Spätfolgen zugeschrieben wurden.
    Kaiser Wilhelm – Säbelrassler oder Softie?
    In kaum einer anderen Figur bündelten sich die Sehnsüchte und Ängste der Deutschen in jener Zeit so stark wie in Gestalt Kaiser Wilhelms II. Für die einen war er ein Monarch, der sich innenpolitisch, vor allem aber auf der Bühne der Weltpolitik unablässig blamierte und für den man sich als Deutscher zu schämen hatte. Für die anderen war er eine starke Identifikationsfigur, auf die man stolz war und auf die man nichts kommen lassen wollte. Diese Polarisierung im Urteil über Wilhelm ist heute passé, seine Fürsprecher sind mit dem Deutschen Reich untergegangen. Er gilt nun weithin als erratischer Herrscher mit peinlichen Äffären und fatalen Fehlern, die letztlich sogar zum Ersten Weltkrieg geführt hätten. Historisch geworden sind Fauxpas wie jene Rede, die Wilhelm am 27. Juli 1900 an deutsche Soldaten richtete, die an einer internationalen Streitmacht zur Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstands in China teilnahmen: »Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!« 42 Die Deutschen so brutal wie die Hunnen – diese Analogie erwies sich als fataler rhetorischer Lapsus, denn noch jahrzehntelang bekamen die Deutschen von ihren Feinden das Etikett der »Hunnen Europas« angeheftet.
    Blamabel

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