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Blamage

Blamage

Titel: Blamage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Saehrendt
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waren auch missglückte Interviews wie jenes, das im Oktober 1908 im britischen Daily Telegraph erschien (u. a. mit dem merkwürdigen Ausspruch: »Die Engländer sind verrückt, verrückt wie die Märzhasen!«) und diplomatische Irritationen sowie einen Staatsskandal im Deutschen Reich auslöste. Der Kaiser, der als junger Mann auf den Thron gekommen war und den greisen Reichsgründer Bismarck aus dem Machtzentrum abgedrängt hatte, wollte dem Männerideal jener Zeit entsprechen und gab sich lebhaft, wild entschlossen und markig. Dabei machte er zweifellos diplomatische und politische Fehler. Die größte Blamage Wilhelms war allerdings jene Affäre, die seine eigene Männlichkeit in Zweifel zog: Die sogenannte Eulenburg-Affäre war, so Nicolaus Sombart, »in jeder ihrer Phasen eine Peinlichkeit, bei der sich alle Beteiligten blamiert haben. Sie ist aber eine Peinlichkeit vor allem der Sache wegen, um die es letztlich ging: Homosexualität als Politikum.« Innenpolitische Feinde des Kaisers führten damals eine Kampagne, in deren Mittelpunkt die These stand, dass Wilhelm unter dem Einfluss eines homosexuellen Zirkels stand, Opfer einer schwulen Verschwörung sei, die das Deutsche Reich in den Abgrund reiße. Im Zentrum dieser Kamarilla stehe der Fürst zu Eulenburg, Wilhelms Mentor aus jungen Jahren. Tatsächlich gab es weiche, geradezu als »weibisch« interpretierbare Wesenszüge und Gewohnheiten Wilhelms, die Argwohn erweckten. In Eulenburgs Liebenberger Tafelrunde wurde Wilhelm (in absentia) »Liebchen« genannt, und manch einem erschien die Szenerie wie eine romantische Traumwelt mit homoerotischer Grundierung. Seltsame Vorlieben des Kaisers wurden infolge der Affäre publik, Kinderspiele wie etwa das »Schinkenklopfen«, das der Monarch gerne mit anderen erwachsenen Männern spielte. In diesen Zusammenhang passte der tragische Herztod des Generals Dietrich Graf von Hülsen-Haeseler. Er starb 1908 in Donaueschingen unter grotesken Umständen an einem Infarkt, nachdem er auf einer Jagdveranstaltung vom Kaiser gezwungen worden war, bis zur völligen Erschöpfung in einem Ballettröckchen vorzutanzen. Diese Geschichte setzte dem Eulenburg-Skandal die Krone auf und musste peinlichst vertuscht werden. Wilhelm wurde von der Eulenburg-Affäre schwer mitgenommen, seine Gegner warfen ihm in der Folge vor, zu einer echten Machtpolitik im darwinistischen Zeitalter nicht fähig zu sein. Die extremen Nationalisten beschimpften Wilhelm als memmenhaften »Friedenskaiser«, dessen Politik wurde daraufhin noch unberechenbarer und peinlicher, wenn nicht sogar gefährlicher, da Wilhelm, obwohl in seinem Inneren keineswegs auf Krieg erpicht, glaubte, nach außen hin als militärischer Hardliner auftreten zu müssen. Bellizist oder Militarist – diese feine Unterscheidung fiel im Zeitalter der Nervosität bisweilen schwer, und die Kriegsgefahr wurde durch Wilhelms Auftritte nicht gerade geringer.
    Das Rollenbild des starken, kriegerischen Mannes wurde im Ersten Weltkrieg schwer erschüttert – so viele depressive, »hysterische« und traumatisierte Männer (»Kriegszitterer«) – das hatte man sich bis dato einfach nicht vorstellen können. Schon in der Vorkriegszeit hatte sich im antirationalen Impuls des Expressionismus, dessen »Oh-Mensch-Pathos« später belächelt werden sollte, ein Wandel im Verhältnis zum Gefühl angedeutet. Nach der Kriegskatastrophe kam diese emotionale Haltung, die nach einem ganzheitlichen Neuanfang auf allen Ebenen rief, für eine kurze Zeit in Mode: Liebe und Versöhnung, Gleichberechtigung und Humanität, Misstrauen gegen Technik und Bürokratie waren die Schlagworte des expressionistischen Zeitgeistes. Obwohl dieses Pathos rasch verflog und einer neuen Sachlichkeit wich, in der wieder intellektuelle Coolness angesagt war, kam doch in den folgenden Jahren einiges in Bewegung – es war die Zeit der wilden 1920er. Verhaltensweisen und Modeerscheinungen, die im Kaiserreich noch unsagbar peinlich gewesen wären, waren im (zumindest großstädtischen) Alltagsleben nun gang und gäbe. Neue Sachlichkeit und soziale Modernisierungstendenzen verbanden sich dann in den 1930ern mit den großen Ideologien auf der rechten und der linken Seite. Ein reaktionäres Geschlechterbild setzte sich wieder durch, Schwärmen und Träumen war erlaubt, aber nicht mehr

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