Blamage
Organisationsstrukturen oder Machtverhältnisse, politische Mehrheiten und Meinungsführerschaften können damit infrage gestellt werden und einem Prozess der Anpassung unterzogen werden. Selbst Reformen und Revolten können durch sie ausgelöst werden, und die Teilhabe neuer Gruppen und Personen an Macht und Repräsentation wird auf diese Weise initiiert. Insofern sind peinliche Skandale notwendige Selbstreinigungskräfte der Gesellschaft. Und paradoxerweise ist der politische Skandal in den westlichen Demokratien letztlich auch ein wichtiges Instrument, um das Vertrauen in die Politik immer wieder zu erneuern.
Die Paparazzi â Parasiten der Peinlichkeit
Die Rede muss in diesem Kapitel natürlich auf die Spürhunde des Skandals kommen: die Paparazzi und die Petzen. Generell gibt es ja stets Menschen, die gierig danach sind, bei anderen Blamables und Intimes zu entdecken und eifrig weiterzuverbreiten. Dabei handelt es sich in der Regel um Neider, Nebenbuhler, Mobber und Konkurrenten, wie sie in jeder sozialen Schicht, in jedem Bekanntenkreis, Familie oder Unternehmen existieren. Manchen scheint es ein geradezu lustvolles Vergnügen zu bereiten, bei anderen Peinliches auszumachen und diese Peinlichkeit zu verstärken, indem sie mit dem Finger darauf zeigen. Und dies gilt im besonderen MaÃe für Prominente. Denn diese haben letztlich ihr Recht auf Privatleben gegen den Ruhm eingetauscht, was auch Konstantin Wecker in seiner Autobiografie Die Kunst des Scheiterns bestätigt: »Als Promi sind Sie verloren. Sie leben in Angst und Schrecken, dass ihre kleinen Schweinereien, die sich alle anderen auch leisten, schon tags darauf an den Pranger gestellt werden.« Einmal bekam Wecker Fotos zugeschickt, die ihn im erbärmlichen Zustand auf dem Münchner Oktoberfest zeigten. Der Fotograf schrieb dazu, er hätte die Bilder auch der Presse verkaufen können, aber er verzichte darauf, weil er Weckers Lieder mochte. Doch die Drohung liegt ständig in der Luft, und irgendwann, so Wecker, »leben Sie nicht mehr, wie Sie wollen, sondern wie Sie glauben, wie es die Ãffentlichkeit will, oder die Presse. Prominent sein ist ein Gefängnis, das man dauernd mit sich herumschleppt. Und in den meisten Fällen ist das Urteil lebenslänglich.«
Die folgende Episode aus der deutschen Geschichte zeigt, welch fatale Langzeitwirkung ein Promi-Schnappschuss haben kann. Im Fokus der Kamera war seinerzeit Friedrich Ebert, das erste republikanische Staatsoberhaupt Deutschlands. Eberts Amtszeit wurde von ständigen persönlichen Beleidigungen und hämischen Polemiken monarchistischer und rechtsgerichteter Medien begleitet. Ihnen war der kleingewachsene Sozialdemokrat, ein ehemaliger Handwerksmeister aus dem Badischen, nicht würdig genug, das Deutsche Reich zu repräsentieren. In diesem Umfeld entwickelte ein harmloses Foto eines eher wohlmeinenden Paparazzo eine fatale Wirkung. Am 16. Juli 1919 hatten sich Ebert und Reichswehrminister Noske beim Baden in der Ostsee fotografieren lassen, um sich volksnah und von einer freundlich-menschlichen Seite zu zeigen. Dabei trugen sie jedoch recht unvorteilhaft sitzende Badehosen statt der bis dahin (auch für Männer) üblichen Badeanzüge. Das Bild des Fotografen Wilhelm Steffen wurde am 9. August 1919 erstmals in einer Tageszeitung veröffentlicht. Aufsehen erregte aber erst die Zweitverwertung, als am 21. August 1919, dem Tag, an dem Ebert als Reichspräsident auf die neue Verfassung vereidigt wurde, die auflagenstarke Berliner Illustrierte Zeitung mit dem Badehosenbild aufmachte. Nun war Ebert volksnäher, als es ihm lieb sein konnte, und seine politischen Feinde schlachteten die Bademoden-Blamage nach Kräften aus. Ebert lieà in der Parteizeitung Vorwärts verbreiten, das Foto sei »unberechtigterweise« veröffentlicht worden. Doch es war zu spät, das Bild war längst in der Welt. In der Folgezeit wurde es immer wieder nachgedruckt und karikiert. Das Witzblatt Kladderadatsch veröffentlichte etwa folgende Parodie auf die kaiserliche Hymne »Heil dir im Siegerkranz«: »Heil dir am Badestrand / Herrscher im Vaterland / Heil, Ebert, dir! / Du hast die Badebüx, / sonst hast du weiter nix / als deines Leibes Zier. / Heil, Ebert, dir!« Die Deutsche Tageszeitung brachte eine Postkarte heraus, die das Badehosen-Foto mit Bildern von Kaiser Wilhelm II. und Hindenburg in Prunkuniformen kontrastierte;
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