Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Wintereinbruches aufgeben, und einer der Bergsteiger kam ohne linken Daumen zurück. Er war zwar nicht abgefroren, sondern bei einem Unfall mit Sicherungsseil und Eispickel abgetrennt worden, doch in seiner Trauer um den zehnten Finger gab der Bergsteiger den unhilfsbereiten St. Petrianern die Schuld und stürmte die Volksschule. Damals wurden alle Kinder des Dorfes in einer Klasse unterrichtet, und er stellte sich trotz kreischender Proteste der Volksschullehrerin hinter das Pult, um den Kindern zu erklären, dass es keinen Gott gebe. Und erst recht kein Christkind. Er sprach wirr und schnell, keines der Kinder konnte danach wiedergeben, was er gesagt hatte, aber der Daumenstummel hatte seine Wirkung getan – die Kinder zweifelten. Die Abendmesse war daraufhin voll, die Frauen beteten und klagten, die Männer überlegten beim anschließenden Wirtshausbesuch, welche Knochen sie dem Bergsteiger zuerst brechen sollten, bevor sie ihn am Fahnenmast pfählen würden, denn er hatte den Kindern nicht nur die Chance, in den Himmel zu kommen, genommen, sondern die Eltern der wichtigsten prügelfreien Erziehungsmethode beraubt: Wennst net brav bist, kummts’ Christkinderl net. Johannes Gerlitzen schüttelte den Kopf. Es ging ihm auf die Nerven, dass alle suderten, klagten, fluchten, aber keiner etwas unternahm, also holte er das Hochzeitskleid seiner verstorbenen Mutter vom Dachboden, borgte sich die Perücke des ehemaligen Schullehrers und huschte zur Schlafengehzeit durch die Vor- und Hintergärten der Familien mit schulpflichtigen Kindern. Am nächsten Tag beteten die Kinder das Vaterunser vor Schulbeginn mit der größten Inbrunst in der Geschichte von St. Peter. Sogar der Pfarrer konnte sich bereits in der Morgenmesse über zwei Handvoll Ministranten freuen. Nur der älteste Sohn des Nachbarn von links, Karli Ötsch, war skeptisch geblieben. Da er letztes Jahr schlimm gewesen war, war das Christkind nicht zu ihm gekommen, und er verstand nicht, warum es, ausgerechnet einen Tag nachdem er den Pferdeschwanz seiner kleinen Schwester Irmi angezündet hatte, nun doch kam. Als Johannes also durch den Garten der Ötschs lief, eilte Karli mit Zahnpasta vor dem Mund und Spielzeuggewehr im Anschlag aus dem Haus und schrie:
»I mach des Monster tot!«, woraufhin Johannes das Hochzeitskleid raffte, schneller lief und sich in seiner Meinung bestätigt sah, dass der kleine Karli seinem Vater nachgeriet.
Abgesehen davon avancierte Johannes innerhalb einer Nacht zum Helden des Dorfes. Elisabeth wusste gar nicht, wohin mit all dem Speck, den Marmeladen, gedörrten Früchten, der Butter, der Milch, dem Käse mit und ohne Löcher, die sie an den folgenden Tagen auf der Schwelle fand. Schlagartig verzieh das Dorf Johannes sein komisches Verhalten. Obwohl die Stammtischrunde rund um Gerhard Rossbrand, Friedrich Ebersberger, Wilhelm Hochschwab und Anton Rettenstein Tausende Bemerkungen über Johannes im Brautkleid auf der Zunge hatte, schluckten sie eine jede hinunter. Johannes hatte Großes für die Dorfgemeinschaft geleistet, und unter diesem Umstand sah man ihm gerne nach, dass er sich zuvor verschlossen gezeigt und den anderen den Rücken gekehrt hatte, indem er allein in der Bibliothek herumgesessen war, anstatt sich für das Dorf nützlich zu machen. Und auch Elisabeth wurde nach der Christkindlsache wieder anschmiegsam. Vor allem, als der Doktor bei seinem letzten Besuch vor Weihnachten ankündigte, es würde bald so weit sein. Elisabeth musste sich auf die Geburt vorbereiten, und Johannes würde im neuen Jahr seine Wurmtabletten bekommen. Dieses Mal beschwerte er sich nicht, dass es so lange dauerte, bis er sein Medikament erhielt, denn er dachte nur noch daran, wie es sein würde, endlich sein Kind in den Armen zu halten. Außerdem hatte er schon so viel Zeit mit seinem Wurm verbracht, dass es auf die paar Wochen mehr auch nicht ankam.
Das Weihnachtsfest verbrachten die Gerlitzens zu Hause, hörten sich auf dem Balkon die Turmbläser an, und Johannes spielte das Weihnachtsevangelium mit selbst geschnitzten Krippenfiguren nach – Maria und Josef hatte er die Züge von Elisabeth und sich verpasst. Elisabeth war bereits zu schwanger, um zur Mitternachtsmette bergauf bis in die Kirche zu gehen. Noch vor dem Dreikönigstag war es schließlich so weit. Die Hebamme Trogkofel, deren Wurmtinktur Johannes solch ein Erbrechen beschert hatte, dass er befürchtet hatte, der Wurm käme vorne raus, verbannte ihn nach draußen, ehe er den
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