Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Gesichtsfarbe, und was Johannes am meisten an ihr liebte, war, wie schnell sich ihre Wangen tiefrot färbten, wenn sie lachte. Elisabeth war das manchmal unangenehm, da sie meinte, wie ein Schulmädchen auszusehen. Johannes küsste dann eilig ihre Nasenspitze oder ihr Ohrläppchen, woraufhin sie noch roter wurde und verschmitzt kicherte.
In den 50ern waren Flitterwochen in St. Peter am Anger noch nicht erfunden, aber dank Johannes’ Verletzung kam das junge Liebespaar nun zum Feiern seiner Ehe. Die beiden genossen mehrmals täglich die Freiheit, sich nicht wie in ihrer Jugend in Heustadeln, Holzschupfen und Selchkammern verrenken zu müssen. Bis ihnen übel wurde. Mit Johannes fing es an, er hatte ständig Bauchschmerzen, die zu schweren Verdauungsbeschwerden führten. Bald darauf hustete Elisabeth morgens alle Mahlzeiten des Vortages ins Plumpsklo hinterm Haus. Auf der Kirchenstiege meinten die einen, Elisabeth würde schlecht kochen, während die anderen am Springbrunnen erzählten, Johannes würde Elisabeth und sich zu viel Schnaps genehmigen. Erst als der ziegengesichtige Doktor aus Lenk im Tal seine zweimonatliche Sprechstunde im Versammlungssaal des Gemeinderats abhielt, wurde das Rätsel gelöst. Beiden Eheleuten lag etwas im Bauch: Elisabeth war schwanger, Johannes hatte einen Bandwurm.
Elisabeths Freude war grenzenlos. Zwei Stunden später hatte sie sich bereits den alten Schaukelstuhl vom Dachboden holen lassen, wippte selig darin und strickte Babysocken. Johannes hingegen war mulmig zumute. Er konnte sich kaum freuen, bald Vater zu werden, denn ständig grübelte er, was der Wurm wohl trieb. Schlief er, oder schwamm er herum? Hatte der Wurm überhaupt Augen, und vor allem: Wie war der Wurm in seinen Bauch gekommen? Der Doktor hatte auf Johannes’ Fragen in einem Latein geantwortet, das nicht einmal der Pfarrer verstanden hätte. Der Doktor war nämlich beleidigt, dass Johannes seinen gebrochenen Arm lieber vom Dorftischler hatte behandeln lassen als von einem Spezialisten, und in seinem Ärger hatte er Johannes angekündigt, dass es mindestens ein halbes Jahr dauern würde, bis er ihm ein Anti-Wurm-Medikament aus der Hauptstadt besorgen könne.
Da ihm auch die Volksschullehrerin nichts über im Menschen lebende Würmer erzählen konnte, schlich Johannes, verunsichert von den kuriosen Ideen der Leute im Wirtshaus, drei Tage lang um das Gemeindeamt. Er war sich sicher, dass die Theorien der St. Petrianer Blödsinn waren – das hätte er ja gemerkt, wenn sich so ein großer Wurm von hinten angeschlichen hätte. Am dritten Tag wagte er schließlich, die Gemeindeamtstür zu öffnen. Er ging durch das Eingangszimmer am Postamt und am Aufenthaltsraum der Gendarmen vorbei bis in die Dorfbibliothek. Seit ihn der Pfarrer zu Schulzeiten zur Strafe fürs Stanniolkugelwerfen hierhergeschickt hatte, um sich einen Katechismus auszuborgen und der Klasse daraus zu referieren, war er nicht mehr hier gewesen. Die Bibliothek war von den Benediktinermönchen aus Lenk angelegt worden, viele Jahre lang hatten sie die Bücher auf Generationen von Mauleseln auf den Angerberg transportiert. Nachdem sich das Dorf jedoch vom Kloster losgesagt und die Mönche, die von ihnen Steuern verlangten, mit Mistgabeln die Talstraße hinuntergejagt hatte, war die Bibliothek von niemandem mehr gepflegt worden, bis vor einigen Jahren gescheckte Nagekäfer eingezogen waren, woraufhin man zwei Drittel aller Bücher verbrannt hatte. In St. Peter am Anger hielt sich hartnäckig der Volksglaube, das Klopfen der Nagekäfer würde Tod und Verderben ankündigen. Dabei rief das Männchen nicht den Teufel, sondern das Weibchen zum Liebesspiel.
Die Gemeindesekretärin, die neben ihrer Hauptbeschäftigung auch das Amt des Postfräuleins, der Gendarmerieaushilfe und der Bibliothekarin bestritt, half Johannes bei der Suche. Bis sie in den verbliebenen, ungeordneten Beständen etwas Brauchbares fanden, dauerte es eine Weile. Oftmals tauchten hinter den Büchern mumifizierte Nagekäfer oder kinderfaustgroße Spinnen auf, und Johannes zuckte bei jedem Kreischer seiner Helferin zusammen, doch kurz bevor er einen Hörsturz bekam, wischte sie den Staub von einem Buch, für das er ihr jahrzehntelang dankbar sein würde. Karl Franz Anton von Schreiber: Nachricht von einer beträchtlichen Sammlung thierischer Eingeweidewürmer und Einladung zu einer literarischen Verbindung. Es war 1811 verfasst worden, aber für den Schnitzer Johannes Gerlitzen genau
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