Blaulicht
Psychotherapeutin, die wir immer wieder einmal hinzuziehen, wenn’s drauf ankommt. Eine ganz gescheite Frau, die viel Erfahrung mitbringt.«
»Ab wann kommt sie?«
»Am liebsten wäre mir gestern. Ich hab sie noch nicht erreicht.«
Mattusch begibt sich in sein Büro zurück, wo der Ventilator auf Hochtouren surrt, und wählt abermals die Mobilnummer. Mit demselben Erfolg wie vorhin. Jetzt allerdings mit englischer Durchsage.
» … not available … «, brummt Mattusch und legt den Hörer wieder auf. Wird er eben den Gloßner in Fürth anrufen, der hoffentlich noch nicht zu den Hitzekollapsopfern gehört. Denn der ist mit der Halbritter ganz speziell.
»Fürth, Sternecker.«
»Grüß Sie, Kollege! Der Sigi ist wohl gerade nicht im Haus?«
Der sei im Urlaub, verkündet Kommissar Sternecker, und erst ab 19. Juli wieder da. Worum es denn gehe? Ob er vielleicht helfen könne?
»Nein, nein. Die Information, die ich brauch, hat nur der Sigi. Ich versuch’s einmal auf seinem Handy. – Wie? – Da, wo er Urlaub macht, gibt’s keinen Empfang? – Wo macht der denn Urlaub? – Also, wenn Sie’s einem verraten dürfen, dann mir! Der Sigi und ich haben vor zwanzig Jahren Streifendienst zusammen gemacht – Was? An der tschechischen Grenze? – Der alte Schlawiner. – Bitte, lieber Sternecker, die tschechische Grenze ist lang. Soll ich nach dem Gloßner fahnden lassen?« Mattusch kritzelt wüste Schraffuren auf seine Schreibtischunterlage und fragt sich, wie Gloßner es bislang geschafft hat, in Sterneckers täglicher Gesellschaft nicht wahnsinnig zu werden. »Nein, es brennt! Ich sag nur: Tobisch. – Wie heißt der Ort? – Lindau? – Ähm, aber das ist doch am Bodensee?«
Als Mattusch das Gespräch beendet, ist er um zwei Informationen reicher. Nämlich, dass es ein auf der zweiten Silbe betontes Lindau in der östlichen Oberpfalz gibt, Ortsteil der Marktgemeinde Schönsee, und dass der Lindauer Wirt, Schmid mit Namen, dessen Telefonnummer Sternecker soeben preisgegeben hat, gewissermaßen den V-Mann zu Gloßner darstellt.
Die Nummer hat nur drei Stellen nach der Vorwahl, und die helle weibliche Stimme am anderen Ende klingt, als melde sie sich aus einer längst vergangenen Welt, in der die Lebenszeit undurchschnitten von Handyklingeln und Ampelphasen nach ihren eigenen Rhythmen behaglich dahinfließt.
»Der Herr Gloßner vom Zöllnerhaus?« fragt sie zurück und gibt bekannt, dass der Kommissar des Nachmittags gewöhnlich spazierengehe, danach aber fast immer im Gasthof zu erscheinen pflege. »Soll er Sie zurückrufen?«
»Unbedingt. Sagen Sie ihm sofort Bescheid, wenn er wieder zurück ist.« Mattusch gibt sicherheitshalber seine Büronummer durch. Unter normalen Umständen bekäme er eine große Sehnsucht nach dieser beschaulichen Welt – doch im Augenblick peinigt ihn nur die Angst, man könnte sich dort womöglich Tage Zeit lassen, um Gloßner von seinem Anruf in Kenntnis zu setzen. »Es ist außerordentlich dringend!« sagt er also zum wiederholten Male und kann sich gerade noch die Frage verkneifen »Haben Sie verstanden?«
Dann geht er zur Bayernkarte, die an der Wand hängt, und sucht dieses Schönsee, das fast in gerader Linie östlich von Nürnberg liegen soll. Wie hatte der Sternecker gesagt? Von Waidhaus ein paar Kilometer nach Süden. Mattuschs Finger folgt Kalz’ Weg nach Pilsen und gleitet kurz vor der deutsch-tschechischen Grenze nach unten. Pfrentsch – Eslarn – Schönsee. Und ein kleiner Punkt am Ende einer Stichstraße, etwas oberhalb von Schönsee gelegen, ist in winzigen Lettern mit »Lindau« bezeichnet.
*
Es ist komisch, wie sich die Orte verändern, wenn du sie aus einem anderen als dem gewohnten Blickwinkel betrachtest. Fahr für ein paar Wochen nach Amerika und komm zurück – alles erscheint dir plötzlich kleiner, wie von einem Zauberer geschrumpft: die Straßen, die Häuser, sogar die Menschen. Fahr für ein paar Wochen nach Griechenland. Wenn du wieder in Nürnberg bist, wird dein erster Gedanke sein: warum gibt es hier so wenig Grün, so wenig Platz, so wenig Zeit?
Zoe war eine ganze Weile weg aus Nürnberg. Erst das Psychologiestudium in Heidelberg, dann die Polizeihochschule in Fürstenfeldbruck. Als sie zurückkam in ihre Heimatstadt, war diese verändert – erschien ihr verändert – wahrscheinlich war alles genauso wie immer – nur sie nicht. Sie hatte einen neuen Blick bekommen, sie war nicht mehr die Zoe Kandeloros, die sie gewesen war, bevor sie
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