Bleakhouse
der Spiegel.«
Charley sprang vom Tisch auf, als ob sie etwas vergessen hätte, ging in das nächste Zimmer, und ich hörte sie draußen schluchzen.
Ich hatte schon oft daran gedacht und war jetzt meiner Sache gewiß. Ich konnte Gott danken, daß es mich jetzt nicht mehr erschütterte. Ich rief Charley zurück, und als sie kam – anfangs mit einem gezwungnen Lächeln, aber, wie sie näher trat, mit bekümmerter Miene –, schloß ich sie in meine Arme und sagte:
»Es liegt wenig daran, Charley. Ich glaube, ich kann auch ohne mein altes Gesicht recht gut auskommen.«
Ich erholte mich bald soweit, daß ich das Bett verlassen, im Lehnstuhl sitzen oder sogar, auf Charley gelehnt, schwindlig in das nächste Zimmer gehen konnte. Auch in diesem fehlte der Spiegel, aber was ich zu tragen hatte, war deshalb nicht schwerer zu tragen.
Mein Vormund hatte beständig darauf gedrungen, mich zu besuchen, und jetzt war kein Grund mehr, daß ich mir dieses Glück noch länger hätte versagen sollen. Er kam eines Morgens und wollte mich anfangs gar nicht aus seinen Armen lassen. Immer und immer wieder rief er: »Mein liebes, liebes Mädchen!«
Ich hatte längst gewußt, wie hätte es auch anders sein können, welchen tiefen Quell von Liebe und Edelsinn sein Herz barg, und mußte nicht all das geringfügige Leid bei dem Gedanken, eine Stelle in einem solchen Herzen einnehmen zu dürfen, in den Hintergrund treten? Sicherlich! sagte ich mir. Er hat mein Gesicht gesehen und ist sogar noch zärtlicher gegen mich als früher. Er hat mich gesehen und hat mich trotzdem noch lieber als ehedem. Worüber sollte ich da noch traurig sein!
Er setzte sich neben mich aufs Sofa und schlang seinen Arm um mich. Eine kleine Weile saß er so, mit der Hand vor dem Gesicht; aber als er sie sinken ließ, verrieten seine Mienen keine Erregung. Er sah fröhlich aus wie immer.
»Mein kleines Mütterchen«, sagte er, »was war das doch für eine traurige Zeit. Und noch dazu ist das Mütterchen unerbittlich gewesen.«
»Das hat so sein müssen, Vormund.«
»Sein müssen ?« wiederholte er liebreich. »Natürlich. Ja, du hast recht. Aber erstlich waren Ada und ich ganz und gar einsam und unglücklich, und dann ist deine Freundin Caddy beständig zu allen Zeiten gekommen, und alle im Haus waren elend und traurig, und sogar der arme Rick hat geschrieben – und noch dazu an mich – aus Sorge um dich.«
Ich hatte in Adas Briefen von Caddy gehört, aber nichts von Richard. Ich sagte ihm das.
»Nun ja, liebes Kind«, erklärte er mir. »Ich habe es für das Beste gehalten, ihr nichts zu sagen.«
»Du legtest Nachdruck darauf, daß er an dich geschrieben hat. Es ist doch ganz natürlich von ihm. Er hätte keinem bessern Freund schreiben können.«
»Er ist vielleicht andrer Meinung«, entgegnete mein Vormund. »Die Wahrheit ist, daß er an mich scheinbar nur widerwillig schrieb, und zwar nur in der Hoffnung, über dich Nachricht zu bekommen. Er schrieb kalt, stolz und gereizt. Aber wir müssen da Nachsicht üben, kleines Frauchen. Er ist nicht zu tadeln. 'Jarndyce kontra Jarndyce' hat eben zu sehr auf ihn eingewirkt und läßt mich ihm in einem andern Licht erscheinen. Ich habe erfahren, wie oft der Prozeß so Schlimmes und noch viel Schlimmeres angerichtet hat. Wenn zwei Engel darein verwickelt wären, glaube ich, würde es sogar ihrem Charakter schaden.«
»Deinen Charakter, Vormund, hat es jedenfalls nicht verändert.«
»O doch, liebes Kind«, sagte er lachend. »Er hat aus Südwind Ostwind gemacht, ich weiß nicht, wie oft. Rick hegt Mißtrauen und Argwohn gegen mich, geht zu Advokaten, die ihn lehren, mir mit Verdacht zu begegnen. Er hört von einander widerstreitenden Interessen reden und Ansprüchen, die sich mit den seinen angeblich nicht vertragen, und was sonst noch alles. Weiß der Himmel, wenn ich sie für meinen Teil aufgeben könnte, aus diesem Wust von Zopfflechterei, der meinen unglücklichen Namen seit so langer Zeit trägt, herauskommen oder alles dadurch ein für alle Mal beseitigen könnte, ich würde es, weiß Gott, diese Stunde noch tun. Und lieber möchte ich dem armen Rick seinen ursprünglichen Charakter wiedergeben, als all das Geld zu besitzen, das die toten Prozessierenden, denen auf dem Rad des Kanzleigerichts Herz und Seele gebrochen worden sind, bei dem Generalrechnungsführer haben liegen lassen müssen, ohne auch nur einen Pfennig davon gehabt zu haben. Und glaube mir, liebes Kind, das wäre Geld genug, um eine
Weitere Kostenlose Bücher