Bleiernes Schweigen
Erdbeben, das Dörfer und Städte in Schutt und Asche legt.
Doch es geschieht nichts.
Nur sein Atem, kurz und unmerklich. Und das künstliche Ticken des Herzens.
Der Mann, den alle gesehen, viele gefürchtet und manche gesucht haben, liegt im Sterben. Er wird es allein tun, unter falschem Namen, und all seine Geschichten mit ins Grab nehmen. Wie er so daliegt, hat er nichts Erschreckendes und Grausames mehr. Nicht einmal sein Gesicht, auf dem der Tumor über Wangen, Stirn und das linke Auge wuchert und die Normalität in ein Zerrbild verwandelt.
Jetzt, da er vor ihm steht, drängt sich ihm der Gedanke auf, wie sehr dieser Mann und der Staat sich ähneln. Eine Missbildung, die niemand zu verstecken sucht und die jeder zu sehen kriegt, der sie sehen will oder den Mut hat, sie zu ertragen.
»Ich kenne dich.«
Die Stimme klingt wie ein dürrer Ast, der bricht. Mühsam quält sie sich durch die Erschöpfung, die Medikamente, die Benommenheit, die Kluft zu den Dingen und der Welt.
»Ich kenne dich«, wiederholt der Werwolf. Er sagt es, ohne die Augen zu öffnen, ohne sich zu rühren, nur die Lippen öffnen sich leicht.
»Ich kenne dich«, und jetzt bekommt Andrea Angst.
Angst vor der Stille, vor dem Ort, vor dem Tod, der so nah ist, dass er ihn riechen kann. Vor der Vergangenheit, die sich nicht mehr erzählen lässt, und davor, selbst ein Teil davon zu werden wie alle, die versucht haben, sie ans Licht zu zerren.
Du kennst mich nicht, möchte er antworten. Aber hinterdiesen geschlossenen Augen ist niemand, der ihm zuhören würde. Also schweigt er und lässt die Freude zu, einen Feind sterben zu sehen, und das schlechte Gewissen, das sie ihm bereitet.
Dann dreht er sich um und geht. Die Tür lässt er offen.
Während er den Flur hinuntergeht, verwandelt sich das Zucken des Herzmonitors in ein anhaltendes Piepen.
Adriano bricht sich ein Stück Bitterschokolade ab, stippt mit akribischer Sorgfalt die Krümel auf, die im Schokoladenpapier zurückgeblieben sind, und liest die Notiz noch einmal.
»Bist du sicher?«, fragt er. Vom anderen Ende der Leitung erhält er eine Bestätigung und legt auf.
Die Bar, in der er sich befindet, ist rund zwanzig Meter von seiner Wohnung entfernt. Das Telefon ist ganz hinten im Billardzimmer. Zwei Männer spielen in andächtigem Schweigen 9-Kegel-Billard. Das dumpfe Klacken der Queues, das Rollen der Bälle über den Filz, das Scharren der Kegel, das knappe Klicken des Punktzählers.
An der Wand lehnt ein alter Mann. Lakritz kauend schaut er dem Spiel zu, eine Hand in der Hosentasche.
Adriano wendet den Rollstuhl und rollt in eine Ecke. Der schummrige Raum ist riesig. Zwei Lampen, eine neben dem Telefon und eine über dem Tisch. Als er am Billardtisch vorbeikommt, nickt ihm einer der Spieler zu. Der andere hat sich vornüber gebeugt und wägt den nächsten Stoß ab. Kurz bevor er die Tür öffnet und in die Bar hinüberrollt, hört Adriano ihn sein Spiel machen.
Er bestellt einen Kaffee. Während er ihn trinkt, schielt er auf den Zettel in seiner Hand. Er faltet ihn kaum auseinander, wie ein Schüler, der während einer Prüfung zu spicken versucht.
Die Sadost, das Unternehmen, das Vitale Daniele gegenüber erwähnt hat, ist eine Finanzierungsgesellschaft mit mehreren Büros in ganz Italien. Der Typ von der Finanzpolizei,mit dem er telefoniert hat, sagt, es sei daran nichts faul und sie zahle regelmäßig ihre Steuern, es habe zwei Steuerprüfungen gegeben, die nichts ergeben hätten. Der nächste Anruf war nicht erfolgreicher. Keiner ihrer Kunden steht mit irgendwelchen zwielichtigen Kreisen in Verbindung.
Die Eigentümerin der Sadost heißt Grazia Dinardo. Sie lebt seit ihrer Geburt in Moncalieri, hat keine Kinder und ist schon seit Jahren verwitwet. Sie ist ebenfalls sauber. Keinerlei Verbindung zu Rossini, keinerlei Verbindung zu Cèrcasi. Nicht einmal zufällig.
Adriano zahlt seinen Kaffee.
An der Schwelle bleibt er stehen. Dann dreht er um, tauscht einen einvernehmlichen Blick mit dem Barmann und kehrt in den Billardsaal zurück.
Noch zwei Anrufe. Einer gilt einem alten Freund. Und einer mir.
Als das Telefon klingelt, stecke ich in einem riesigen Berg Unterlagen.
»Holst du mich ab?«, fragt er. »Lass uns zusammen einkaufen gehen.«
Ich antworte einsilbig, und zwanzig Minuten später stehen wir auf dem Parkplatz des Supermarktes. Zwischen Putzmittel und Aufschnitt erzählt er mir von der Sadost.
Es überrascht mich nicht. Seit drei Tagen bin ich
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