Bleiernes Schweigen
blauer, kaputter Plastikball in einer Hofecke.
Sofort verscheucht er den Gedanken. In diesen Häusern, die sich in die Ebene schmiegen und durch eine zentrale Glasstruktur verbunden sind, hofft Andrea weder Kinder, noch Spielzeug, noch kaputte Plastikbälle zu finden. Dort drinnen herrscht der Tod, das Warten, die schleichende Ewigkeit, in der alles erlischt, auch der Schmerz und der Atem.
Kurz vor dem Eingang gleicht die Welt einer körnigen Fotografie. Der Regen verwischt die Farben und mischt sie mit der Stille. Die Furcht vor dem, was ihn erwartet, lässt alles absurd und schrecklich erscheinen.
Er bleibt stehen. Für einen Moment ist er kurz davor, kehrtzumachen, ins Auto zu steigen, die Placebo-CD voll aufzudrehen und sich mit Musik zuzudröhnen, bis es wehtut und er hoffen kann, sauber aus der Sache rauszukommen. Ohne ein Gestern und ein Heute, ohne Erinnerungen und Erwartungen, weit weg von einer Suche, die ihn, enttäuscht und gelähmt vor Angst, an die Schwelle eines verseuchten,geweihten Ortes geführt hat, in dem Menschen ohne Hoffnung auf den Tod warten.
Er klappt den Schirm zu, hört die automatische Schiebetür zurückgleiten und tritt ein.
Es ist warm und hell.
Ein großer runder Raum. Die Rezeption direkt vor ihm. Vier Eingänge, ausgewiesen auf einem gelben Schild. Gruppen mit aufsteigenden Nummern, von eins bis vierzig. Nichts, was an ein Krankenhaus erinnert, abgesehen von dem makellosen Kittel eines Pflegers.
Langsam bewegt er sich durch dieses Meer aus blendendem Licht. Dann kommt ein Mann um die vierzig in dunklem Polohemd, beigefarbenen Hosen und Lederschuhen auf ihn zu und lächelt. Er spricht ihn mit Namen an und stellt sich vor.
»Möchten Sie einen Kaffee?«
Andrea lehnt ab. Er will den Augenblick, in dem ein Teil seiner Geschichte ihr endgültiges Ende findet, nicht unnötig hinauszögern.
»Ich möchte ihn sehen«, sagt er.
Der Mann nickt. Eine kaum merkliche Bewegung, exakt austariert zwischen Zudringlichkeit, Höflichkeit und Diskretion. Er führt ihn einen Flur entlang und bleibt vor einer angelehnten Tür stehen. Es ist die Nummer vierzehn. Dunkle Zahlen auf einem Metallschild.
»Er ist mit einem Bruder gekommen«, sagt er. »Aber er bekommt nur selten Besuch.«
»Seit wann ist er hier?«
»Seit einer Woche.«
»Wie lange hat er noch?«
Überrascht vom kalten Ton der Frage sieht der Mann Andrea an.
»Ich wundere mich, dass er überhaupt noch am Leben ist«, antwortet er. »Seit zwei Tagen ist er nicht mehr bei Bewusstsein.«
Andrea nickt.
»Darf ich?«
»Bitte. Bleiben Sie, so lange Sie wollen. Das hier ist kein Krankenhaus.«
Andrea sieht ihm nach. Als der Pfleger hinter dem Eingang des Glastunnels verschwunden ist, starrt er einen Moment lang auf den verregneten Hof und weicht von der Zimmertür zurück, als könnte der Mann, der dahinter liegt, ihn plötzlich packen und lautlos mit sich in den Tod ziehen.
Es hatte Glück gebraucht, ihn zu finden. Zuerst hatte er versucht herauszubekommen, an was für einer Krankheit er litt, und dann, wie hoch seine Lebenserwartung war. Und dann hatte er nur noch hoffen können, dass er endlich an der Reihe wäre.
Glück eben. Zumindest teilweise. Der Tod ist ihm zuvorgekommen. Der Mann im Zimmer wird nichts mehr erzählen; ihn zu sehen bedeutet lediglich, ein Kapitel zu schließen, einen Namen aus der Liste zu streichen, dem Ende einen Schritt näher zu kommen.
Egal, ob es die Wahrheit oder die Kapitulation bedeutet.
Er öffnet die Tür.
Der Mann, den Elena den Werwolf nannte, liegt umringt von Monitoren da, und sein Herz schlägt im langsamen Takt einer Dampflok, die nicht von der Stelle kommt. Er ist glatzköpfig, vielleicht vollkommen kahl. Auf dem von Tumoren entstellten Gesicht ist kein Haar zu sehen, weder Barthaare noch Brauen.
Andrea mustert ihn von weitem.
Das weiße Zimmer, das weiße Bett, die weißen Laken. Eine brennende Lampe auf dem Nachttisch, ein schwarzer Ledersessel schräg vor dem Bett. Ein Holzschrank gegenüber dem Fenster.
Er tritt näher.
Öffnet ihn.
Jeans, ein paar Poloshirts, leichte Wollpullis, zwei Paar Lederschuhe. Keine Papiere, keine Brieftasche.
Er schließt den Schrank und geht zum Bett. Der Herzmonitor blinkt unbeirrt weiter.
Du hast dich nie versteckt, denkt er.
»Das hast du nie nötig gehabt«, raunt er.
Einen Moment lang ist er sich sicher, dass der Mann die Augen öffnen wird. Dass sie blau, fast weiß sind. Unbeteiligt und kalt wie ein Erdrutsch, eine Überschwemmung, ein
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