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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Fogli
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Tag, um Grazia Dinardo zu finden.
    Sich abermals in Elenas Unterlagen zu stürzen, tut nicht mehr weh. Es gleicht eher der Wehmut, mit der man an etwas Unwiederbringliches denkt, das weit zurückliegt.
    Das schlechte Gewissen ist mit einem Mal weg. Das wird mir just an dem Tag klar, an dem ich wieder in Zahlen, Namen und Telefonnummern herumwühle und die Seiten mit Ferrarinis Konten, die Notizen zu Patti und die zahllosen Details Revue passieren lasse, die Elena nicht kennen konnte und die sie dennoch kannte.
    Sie ist nicht meinetwegen gestorben. Sie ist ihretwegen gestorben. Wegen ihrer Liebe zur Wahrheit, ihres ausgeprägten Gerechtigkeitssinns, der zu allumfassend war, um nicht gefährlich zu sein.
    Sie ist gestorben, weil sie starrsinnig, stolz und ein Einzelgänger war. Sie ist gestorben, weil sie von etwas, an das sie glaubte, nicht ablassen konnte, weil sie sich nicht zufriedengeben und nicht über Dinge hinwegsehen konnte, die zum Himmel stanken.
    Sie ist gestorben, weil sie die Leute zum Reden brachte und sie ihr vertrauten.
    Sie ist aus all den Gründen gestorben, aus denen ich sie geliebt habe.
    Sie ist gestorben und wusste, dass sie sterben würde, und ich weiß nicht, woher ich diese Überzeugung nehme, es gibt keine Anhaltspunkte, keine Andeutungen oder Erinnerungen, die dazu Anlass gäben. Und dennoch: Wie ich abermals durch ihre Unterlagen blättere, bin ich mir dessen sicher und es erschreckt mich.
    Inzwischen kommt die Angst hinterrücks. Jedes Mal ist es eine andere Facette, und es währt nur Sekunden, aber nach und nach hat sie alles eingenommen, was mein Leben umgibt.
    Eine dunkle Ecke, die zugezogenen Schlafzimmervorhänge, die ich jeden Abend vor dem Schlafengehen öffne. Das gelöschte Licht, das mich bei meiner Heimkehr empfängt. Die Stille meiner Wohnung, wenn ich abends aus der Dusche komme und ins Bett gehen will. Das Gesicht des Nachbarn, das mir nicht bekannt vorkommt. Oder das des Briefträgers, den ich morgens zufällig treffe. Das Telefon, das nur einmal läutet. Das gedämpfte Klingeln, mit dem mein Mailprogramm mir das Eintreffen einer neuen Nachricht anzeigt. Der Ton meines Vaters, der mir noch immer etwas verheimlicht, wonach ich ihn nicht zu fragen wage.
    Ein vor dem Haus parkender Wagen, einer wie viele, weder alt noch neu, mit korrektem Nummernschild und hellen Scheiben. Vielleicht steigt eine Frau mit ihrer Tochter ein und fährt davon. Auch sie macht mir Angst.
    Für einen flüchtigen, winzigen, tagtäglich wechselnden Augenblick, kürzer als ein Herzschlag, so kurz, dass ich ihn nicht bemessen könnte, überfällt mich das Grauen und reißt mich nieder.
    Diese Geschichte ist eine Blickrichtung. Eine andere, aber nicht unmögliche Sichtweise. Ein Augenaufschlag, der die Realität in einem anderen Licht zeigt. Und ganz allmählich, Tag für Tag, verändert das Gesehene die Bedeutung der Worte, die Kongruenz der Adjektive, schärft die Umrisse,manipuliert den natürlichen Gang der Gedanken, verändert unumkehrbar die Sicht auf die Welt und die Menschen.
    Bis es einen selbst verändert, die Suche nach der Wahrheit zur Besessenheit und die Arbeit zur einzigen Lebens- oder Überlebenschance werden lässt.
    Und deshalb weiß ich, dass Elena genauso empfunden hat. Und ich hasse sie nicht dafür, dass sie so weit gegangen ist, ich hasse sie nicht dafür, über alles hinweggegangen zu sein – über sich selbst, mich, unsere Tochter –, auf der Suche nach einem unmöglichen Ziel. Ich habe die gleiche Entscheidung getroffen, und Grazia Dinardo ist lediglich eine letzte Bestätigung.
    Ich finde sie zufällig. Zwei kleine Wörter auf einer der letzten Seiten ihres Notizbuches. Daneben eine Telefonnummer.
    Sizilien, Italien.
    Erst bei den ersten Klingeltönen fällt mir auf, dass es tief in der Nacht ist. Ich lege nicht auf.
    Es klingelt fünfmal.
    Ein Band geht ran.
    Es teilt mir mit, dass das Einwohnermeldeamt von Sciacca vormittags zu den üblichen Bürozeiten geöffnet ist. Ich lege auf, wähle die Nummer noch einmal und höre dieselbe Stimme.
    Ich schicke meinem Vater eine SMS, er wird sie lesen, wenn er aufwacht. Dann kaufe ich ein Flugticket und miete ein Auto.
    In dieser Nacht schlafe ich ohne Alpträume.
     
    Es ist vorbei. Ich weiß es, ganz klar.
    Es ist vorbei.
    Seit alles anfing zu bröckeln, schlafe ich nicht mehr. Seit Monaten nicht mehr. Schweigend sitze ich da und lausche der Nacht. Ich versuche, mir die Zukunft auszumalen, das hab ich immer gekonnt. Doch ich sehe

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