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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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immer sehe ich sie so vor mir. Allein.
    Weil es keine andere Möglichkeit gibt.
    Das habe ich erst sehr viel später am eigenen Leib erfahren.
    Mit ihrem Blick in meinen Augen bin ich eingeschlafen und als der Wecker klingelte, war ich fast erleichtert aus dem Bett gesprungen.
    Ich dachte, eine Dusche würde Ordnung in meine Gedanken bringen.
    Ich irrte mich.
    Es war ein Tag wie heute. Der Regen nur eine Erinnerung, für die Jahreszeit war es fast zu warm. Beim Anziehen hatte ich ein altes Supertramp-Stück vor mich hingesummt. Ich hatte den Schlüssel ins Schloss gesteckt, ihn umgedreht und nach der Klinke gegriffen.
    Vor der Tür wäre ich beinahe darüber gestolpert.
    Der Umschlag lag auf der Fußmatte. Mein Name war darauf gedruckt.
    Ich hatte ihn aufgehoben und einen Moment lang in der Hand gehalten. Als ich ihn öffnete, war klar, was darin war, aber die Angst blieb.
    Unser Artikel war vollständig abgedruckt. Ein weißes Blatt Papier, ohne besondere Kennzeichen. Es gab keine Unterstreichungen, nichts, was ins Auge gefallen wäre.
    Er sollte am nächsten Tag erscheinen.
    Außer mir und Adriano hatten nur Daniele und der Chefredakteur ihn gelesen.
    Er war doppelt gefaltet, damit er in den Umschlag passte. Drei Kugeln lagen darin.
    Es war nicht schwer zu begreifen, wem sie galten.
     
    Carlo Binaghi ist näher an der Sechzig als an der Vierzig, er ist Teilhaber in einem Steuerberaterbüro, hat ein Diplom, eine Ex-Frau, die ihn nicht ausstehen kann, ein Auto, das dringend ersetzt werden müsste, ein Darlehen fürs Haus, das ihm jeden Monat ein Loch in die Tasche reißt, eine Geliebte, die er gern Freundin nennen würde, die davon aber nichts wissen will, eine glühende Leidenschaft für orientalisches Kino und die Romane von Bret Easton Ellis und den häufig geäußerten Wunsch, ein vollkommen anderes Leben zu leben.
    Der Tag, an dem er angefangen hat, die Wirklichkeit in einem andern Licht zu sehen, begann wie jeder andere. Ein Kaffee, ein süßes Teilchen unten in der Bar, der Verkehr, der Parkplatz. Ein nervtötender Klient, dem man erklären muss, dass Steuerhinterziehung genau genommen eine Straftat ist. Am Spätnachmittag Joggen am Strand, dann ein hastig eingenommenes Abendessen ohne Anspruch auf kulinarische Finesse.
    Während er auf dem Sofa liegt und Zeitung liest, läuft der Fernseher im Hintergrund. Die x-te Nachrichtensendung. Bomben im Irak, zwei Autounfälle, jemand, der jemanden umbringt, den er kennt. Der übliche Trottel, der gegen Rumänen und Illegale wettert. Auch das ist Routine, genauso langweilig wie der Rest.
    Er gähnt, sieht auf die Uhr, schreibt eine SMS, schlägt die Zeitung zu und will aufstehen. Da bleibt sein Blick am Bildschirm hängen.
    Der Ministerpräsident Francesco Cèrcasi hatte einen Tennisunfall. Er ist mit dem Schläger gestürzt und hat sich zwei Finger der linken Hand gebrochen. Nichts Ernstes, heißt es. Dabei sieht man Cèrcasi, der winkend aus dem Krankenhaus kommt.
    Er trägt ein Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, hat die Jacke über die Schulter gehängt, und der linke Unterarm ist bis zum Ellenbogen frei.
    Carlo Binaghi hat sich mit einer Hand auf die Sofalehne gestützt, halb im Aufstehen erstarrt. Cèrcasi winkt, eine Kamera zoomt auf den Gips, ein Journalist fragt ihn, wer als Erster unterschreiben darf. Der Ministerpräsident kommt näher, mit windzerzaustem Haar und einem aufgesetzt spitzbübischen Blick hinter den Brillengläsern, und hält dem Fragesteller den Arm hin.
    Es folgt die Unterschrift, allgemeiner Beifall, eine nette Bemerkung. Das Bild kehrt ins Studio zurück.
    Carlo Binaghi lässt sich aufs Sofa fallen. Andere Nachrichten flimmern über den Bildschirm, aber er nimmt sie nicht wahr. Er denkt an etwas, das weit zurückliegt. Er denkt an einen sonnigen Tag und an die Stille.
    Er denkt an den Schmerz, den er empfunden hat und erneut empfindet. Unmittelbar. Jetzt.
    Er steht auf. Die Müdigkeit, die Erschöpfung, der Wunsch, die Augen zu schließen und die Welt ad acta zu legen sind verschwunden.
    Er schaltet den Computer ein. Sucht.
    Fast sofort findet er eine Spur. Und noch eine. Dann sucht er den eben gesehenen Beitrag, sieht ihn sich noch einmal an, hält das Bild an, zieht es auf Bildschirmgröße hoch, versucht es scharfzustellen, überzeugt, sich geirrt zu haben, denn so funktioniert die Wirklichkeit nicht, die Wirklichkeit verarscht einen.
    Er lächelt. Weint. Um sich selbst, um seine kindliche Naivität, die er selbst als Erwachsener nicht

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