Bleiernes Schweigen
wenn er aufwacht. Dann kaufe ich ein Flugticket und miete ein Auto.
In dieser Nacht schlafe ich ohne Alpträume.
Es ist vorbei. Ich weiß es, ganz klar.
Es ist vorbei.
Seit alles anfing zu bröckeln, schlafe ich nicht mehr. Seit Monaten nicht mehr. Schweigend sitze ich da und lausche der Nacht. Ich versuche, mir die Zukunft auszumalen, das hab ich immer gekonnt. Doch ich sehe nichts. Nur Schwärze. Eine vollkommene, totale Leere. Das Dunkel im Spiegel.
M. redet immer öfter mit mir. Er holt weit aus. Eine Bemerkung zum Fußball oder zu sonst was. Und dann nähert er sich dem Thema. Wie ein Geier umkreist er mein Ende.
Ich packe das nicht, habe ich ihm vor einer Woche gesagt. Ich packe das nicht. Ich muss weg, raus aus diesem Leben. Ich muss mir das Gewissen erleichtern und mich wie ein besserer Mensch fühlen. Leben, wie es sich gehört, nicht wie es mir passt. Aufhören, dir zu trauen. Es ist deine Schuld, dass ich hier bin.
Er hat mich angesehen. Schweigend wie immer.
Und was willst du dann machen?, hat er mich schließlich gefragt. Und bist du wirklich sicher, dass nicht du es warst, der das alles wollte? Bist du sicher, etwas Besseres zu sein? Der Beste?
Er hat die Antwort nicht abgewartet. Schweigend ist er hinausgegangen, in seinem Gesicht eine Mischung aus Wut, Vorwurf und Furcht.
Ich bin allein geblieben. Mit der Faust habe ich einen Spiegel zerschlagen. Ich habe alle fortgejagt, lasst mich allein, habe ich gebrüllt. Ihr seid Parasiten, elende Blutegel, die sich von meinem Fleisch ernähren. Dreck. Abschaum. Idioten. Ohne mich dürftet ihr noch nicht mal atmen.
Ich habe gebrüllt. Gegen mich, gegen den fehlenden Mut.
Und dann hat plötzlich alles keinen Sinn mehr gehabt. Ich spürte nichts. Leere. Totales Vakuum. Keinen Schmerz, keine Angst. Weder Reue noch Bedauern.
Ich bin nur eine Figur in einem riesigen Spiel, aber ich kenne die Regeln in- und auswendig. Das kann ich ausnutzen, das Messer beim Griff packen, zustoßen und töten.
Am Leben bleiben.
Grazia Dinardo gibt es nicht.
Die Sachbearbeiterin des Einwohnermeldeamtes wimmelt mich freundlich, aber bestimmt ab. Sie lässt sofort durchblicken, dass sie mir nicht traut, und mein Akzent macht die wenigen Rechtfertigungen, die ich mir aus den Fingern sauge, nicht glaubwürdiger.
Während der gesamten Reise hierher – im Flugzeug, im Mietwagen – habe ich mich gefragt, was das Einwohnermeldeamt von Sciacca mit einer Frau zu schaffen hat, die in der Nähe von Turin geboren ist und dort gelebt hat. Womöglich ein Ehemann, ein Vater, die Mutter. Ich habe das nicht überprüft, und es erscheint mir die einfachste Erklärung.
Die nächstliegende Antwort erhalte ich auf dem Amt. Dinardo ist kein sizilianischer Nachname, sondern ein apulischer. Und soweit bekannt, hat die Signora keine Verwandten hier.
Ich frage nicht weiter. Ich lasse das Auto stehen und mache ein paar Schritte zum Meer hinunter. Ich ziehe die Jacke aus, denke an die Schwüle, die ich daheim zurückgelassen habe, setze mich an den leeren Strand und versuche, zu denken oder an nichts zu denken.
Eine kleine Ewigkeit sitze ich da, dann klingelt das Telefon. Es ist mein Vater. Die Redaktion hat ihn angerufen. Ein Typ möchte mit uns sprechen. Er will mir nicht sagen worüber.
»Es ist besser, wenn du mit dem redest«, sagt er. »Er ist in Sizilien.«
Ich lasse mir die Nummer geben und rufe an. Zwei Minuten später haben wir uns verabredet.
Andrea sieht auf die Uhr und bleibt vor einem neuen Fernseher stehen. In diesem Teil des Einkaufszentrums stehen mindestens fünfzig, und auf sämtlichen Bildschirmen läuft derselbe Kanal. Man kommt sich vor wie im Spiegelkabinett eines Rummelplatzes.
Ein Verkäufer nähert sich, Andrea lässt ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Eine knappe, entschiedene Handbewegung und ein Blick genügen. Er weicht einen Schritt zurück, tut so, als interessierte er sich für den Unterschied zwischen zwei Modellen. Auf den Schildern stehen mehr Abkürzungen als in einem geheimen Bericht, und die Bildqualität scheint absolut identisch zu sein.
»Entschuldige.«
Die Stimme lässt das gedankenverlorene Lächeln aus seinem Gesicht verschwinden. Ohne sich umzudrehen, besieht er sich einen DVD-Player.
»Du bist spät dran«, sagt er.
Der Mann schnaubt verlegen.
»Ich weiß, verdammt. Ich weiß. Du kannst dir gar nicht vor …«
Andrea dreht sich um. Sein Gesicht ist vollkommen ausdruckslos. Die Stimme genügt.
»Nein, das kann ich nicht. Und
Weitere Kostenlose Bücher